Berlin/Istanbul (Reuters) - Der Satiriker Jan Böhmermann hat in der Affäre um sein Schmähgedicht auf den türkischen Präsident Recep Tayyip Erdogan scharfe Kritik an Bundeskanzlerin Angela Merkel geübt.
"Die Bundeskanzlerin darf nicht wackeln, wenn es um die Meinungsfreiheit geht. Doch stattdessen hat sie mich filetiert, einem nervenkranken Despoten zum Tee serviert und einen deutschen Ai Wei Wei aus mir gemacht", sagte Böhmermann der Wochenzeitung "Die Zeit" unter Hinweis auf den chinesischen Künstler und Dissidenten. Das Blatt veröffentlichte Auszüge des Interviews vorab auf ihrer Internetseite. Wie Böhmermann forderte auch der türkische Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk ein stärkeres Eintreten der Europäer für die Meinungsfreiheit.
Böhmermann hatte Erdogan in einem Schmähgedicht in Vulgärsprache beleidigt, um nach eigenen Worten die Grenzen dessen aufzuzeigen, was in Deutschland als Satire erlaubt sei und was nicht. Merkel hatte das Gedicht in einem Telefonat mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu als "bewusst verletzend" bezeichnet und diese Äußerung über den Regierungssprecher öffentlich gemacht. Nach heftiger öffentlicher Debatte bezeichnete sie ihre Äußerung später als Fehler. Die türkische Regierung hat ein Strafverfahren nach Paragraf 103 gegen Böhmermann gefordert, der die Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter unter Strafe stellt. Die notwendige Ermächtigung hatte Merkel der Staatsanwaltschaft erteilt.
PAMUK: ERDOGAN WILL KRITIKER NUR MUNDTOT MACHEN
Nach Angaben des Mainzer Oberstaatsanwalts Gerd Deutschler sind gegen den Satiriker inzwischen Anzeigen "im höheren dreistelligen Bereich" eingegangen. Eine Vernehmung Böhmermanns sei anders als noch vergangene Woche nicht mehr konkret beabsichtigt, weil er seit Ende April anwaltlich vertreten werde, sagte Deutschler der Nachrichtenagentur Reuters. Der Verteidigung werde nun zunächst Einsicht in die Akten gewährt. Ob dann eine inhaltliche Stellungnahme des Anwalts abgegeben werde, sei eine Frage der Verteidigungsstrategie. Um ein Strafverfahren einzuleiten, muss ein hinreichender Tatverdacht vorliegen. Ganz kurzfristig werde dazu keine Entscheidung fallen, sagte Deutschler.
Nobelpreisträger Pamuk sagte der Nachrichtenagentur Reuters am Dienstag, die Klagen in der Türkei hätten nichts mit Beleidigungen zu tun. "Es geht nur darum, die politische Opposition mundtot zu machen", erklärte er nach einem Gerichtstermin, bei dem der Autor Murat Belge wegen Beleidigung Erdogans angeklagt war. "Es geht darum, die Menschen einzuschüchtern und das Land so in Furcht zu versetzen, dass niemand die Regierung kritisiert." Pamuk war vor zehn Jahren selbst der "Beleidigung des Türkentums" angeklagt worden. Die Vorwürfe wurden später fallengelassen. "Ich hoffe, dass die Spitzen der EU hin und wieder die Meinungsfreiheit ansprechen, wenn sie der türkischen Führung die Hand geben", sagte Pamuk.
Die türkische Staatsanwaltschaft hat seit dem Amtsantritt Erdogans vor zwei Jahren 1800 Verfahren wegen Beleidigung des Staatsoberhaupts eröffnet.