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INSIGHT-Flüchtlingskrise - Ein Kontinent schaltet in Notmodus

Veröffentlicht am 30.08.2015, 10:00
Aktualisiert 30.08.2015, 10:07
© Reuters.  INSIGHT-Flüchtlingskrise - Ein Kontinent schaltet in Notmodus

© Reuters. INSIGHT-Flüchtlingskrise - Ein Kontinent schaltet in Notmodus

(Wiederholung vom Freitag)

* Wachsende Zahlen versetzen Deutschland und EU in Alarmmodus

* Merkel: Im Normalmodus nicht zu schaffen

* Fehlendes Geld und Gesetz verhindern schnelle Hilfe

* In EU droht Flickenteppich nationaler Antworten

- von Andreas Rinke und Thorsten Severin

Berlin, 30. Aug (Reuters) - Wer die neue Völkerwanderung nach Europa wirklich spüren will, der fährt am besten in den kleinen idyllischen Fischerort Skala Skamnias. Dort, an der Nordostspitze der griechischen Insel Lesbos, wo man auf die nahegelegene türkische Küste schauen kann, ist die Welt eigentlich noch in Ordnung. Aber dort ist auch eine Außengrenze des passfreien Schengen-Raums in Europa. Und überall liegen die Überreste zerstörter Boote und orangene Schwimmwesten am Strand, mit denen derzeit mehr als 1000 Flüchtlinge Tag für Tag aus der Türkei anlanden. Täglich läuft ein Treck von Menschen dann den fast 70 Kilometer langen Weg nach Mytilene - vorbei an alten Griechen, die vor Cafés sitzen, vorbei an Touristenanlagen.

Und obwohl die Stimmung erstaunlich entspannt wirkt, ist zu spüren, warum die Flüchtlingsproblematik ganz Europa in einen Stresszustand versetzt - auch die politischen Akteure im rund 2400 Kilometer entfernten Berlin. Zwar ahnen wohl die wenigsten, wie unkontrolliert der Eintritt in den Schengen-Raum wirklich ist. Aber als Bundesinnenminister Thomas de Maiziere in seinem Ministerium vor die Kameras tritt und die Prognose der in diesem Jahr erwarteten Flüchtlinge auf 800.000 Menschen erhöht, wird klar, dass in der EU Lesbos und Berlin eigentlich nur Anfangs- und Endpunkt eines und desselben dramatischen Problems sind.

Dabei hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel das Thema bereits auf dem EU-Gipfel im Juni in Brüssel als die größte europäische Herausforderung ihrer bislang zehnjährigen Amtszeit bezeichnet. Damit überraschte sie Journalisten, die eher die Griechenland-Rettung zur Schicksalsfrage für Europa hochstilisiert haben. Als die Kanzlerin dann im August aus dem Urlaub kam, klang sie im ZDF-Sommerinterview noch besorgter: Im "Normalmodus" sei die Flüchtlingskrise nicht mehr zu stemmen - weder auf deutscher noch auf europäischer Ebene.

Dies zeigen auch die sich häufenden Schreckensmeldungen auf den verschiedenen Stationen der Fluchtrouten, zuletzt der Fund von 71 toten Flüchtlingen in einem Lastwagen in Österreich. Auf dem Mittelmeer kentern unzählige Boote, unzählige Menschen ertrinken. In Deutschland brennen Häuser, in denen eigentlich Flüchtlinge untergebracht werden sollten, und Flüchtlingsheime werden angegriffen.

Die Bundesregierung ist überzeugt: Wenn die EU das Thema nicht in den Griff bekommt, dann könnte die Gemeinschaft auseinanderfliegen, wie es intern heißt. Unausgesprochen schwingt bei den Chefs der Volksparteien CDU, CSU und SPD aber auch mit: Wenn Bund, Länder und Kommunen in Deutschland im Winter den Ansturm der Menschen nicht bewältigt haben, kann dies die Landtagswahlen 2016 und sogar die Bundestagswahl 2017 entscheidend beeinflussen.

DIMENSION DES PROBLEMS

Es sind vor allem die Zahlen, die Angst machen. 800.000 Flüchtlinge wären viermal so viele wie 2014 und ein absolutes Allzeithoch für Deutschland. Die Bundesregierung hat sich - notgedrungen - nun zum Ziel gesetzt, den Bürgern reinen Wein einzuschenken. In Legionsstärke bereiten Politiker die Bevölkerung darauf vor, dass das Flüchtlingsproblem nicht in ein paar Monaten gelöst sein wird.

Intern räumen sie ein, dass niemand weiß, ob der Zustrom im kommenden Jahr wieder sinken oder sogar noch weiter anschwellen wird. "Wir - und eigentlich alle in Europa - befinden uns zur Zeit in einem Blindflug", bekennt ein Regierungsmitglied. Deutschland werde sich in den nächsten Jahren auf Hunderttausende Flüchtlinge einstellen müssen, sagt de Maiziere vorsichtshalber. EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn spricht davon, dass es um Europa herum 20 Millionen Flüchtlinge gebe.

Die Dynamik wird besonders deutlich, wenn man die Zahlen herunterbricht: In den ersten sieben Monaten haben bereits 218.221 Personen in Deutschland Asyl beantragt, ein Plus von rund 125 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Und jetzt werden allein im August fast 100.000 neue Flüchtlinge verzeichnet.

Die meisten Menschen kommen aus dem Bürgerkriegsland Syrien. An zweiter Stelle liegt der Westbalkan-Staat Kosovo, gefolgt von Albanien und Serbien - die sich selbst als sichere Herkunftsstaaten sehen. Stark gestiegen sind auch die Einreisen von Menschen aus Irak und Afghanistan. Zu den zehn Haupt-Herkunftsländern zählen zudem Eritrea und Pakistan.

Vielerorts herrscht nun Hektik und Chaos. Politiker und Bürger entdecken mit Schrecken ungewöhnlich viele Facetten, weil hinter jedem der 800.000 Flüchtlinge ein Einzelschicksal steht: Die Herausforderungen reichen von der Schleuserbekämpfung, einer gerechten Verteilung der Menschen auf alle EU-Staaten, der Unterbringung und gesundheitlichen Versorgung der Menschen bis zur Windelverteilung an Kinder, von der Lebensrettung auf dem Mittelmeer bis zur Diskussion darüber, ob Flüchtlinge nun weniger Geld und dafür mehr Sachleistungen erhalten sollen.

Plötzlich verzeichnet alleine Berlin 5000 neue Schüler in seinen "Willkommensklassen", München sieht sich 4500 unbegleiteten Jugendlichen gegenüber. Alle Bundesländer, die bisher von einem Schrumpfen der Bevölkerung und vor allem der Schülerzahl ausgegangen sind, müssen hektisch die gerade reduzierten Lehrerschaften wieder aufstocken. Es fehlt an allem und jedem.

Zudem wird es zunehmend emotional - auch weil es neben den Toten auf dem Mittelmeer eine ganze Reihe gewalttätiger Aktionen gegen Asylunterkünfte gibt. Zum Symbol dafür wurde das sächsische Heidenau. Nach Krawallen gegen ein Flüchtlingsheim bezeichnete SPD-Chef Sigmar Gabriel die gewaltbereiten und rechtsradikalen Demonstranten als "Pack". Als Merkel zwei Tage später kam, wurde die Kanzlerin von Flüchtlingen mit Applaus, aber von einigen Demonstranten mit Buhrufen und einem Plakat "Volksverräterin" empfangen. Der Druck auf die Politik wächst, alle Probleme gleichzeitig zu lösen und die Bevölkerung für eine Aufnahme von immer mehr Asylbewerbern zusammenzuhalten.

Aber die Strategien sind unterschiedlich, auch aus parteipolitischen Motiven. Merkel plädiert bei allen klaren Stellungnahmen gegen Neonazis eher für eine Ent-Emotionalisierung der Debatte. Gabriel dagegen sieht in einer entschiedenen, auch emotionalen Positionierung gegen Rechts auch die Chance einer Mobilisierung für die SPD - notfalls gegen den Koalitionspartner, vor allem die CSU. Am Donnerstag besuchte er im rheinland-pfälzische Ingelheim die zweite Asylunterkunft in dieser Woche, die fünfte in diesem Jahr.

KOMMUNEN BESONDERS GEFORDERT

Der wirkliche Stress, das erkennt auch die Bundesprominenz an, liegt bei den Politikern, Behörden und Helfern in den Kommunen. Von der Meldung, dass hundert oder mehr Flüchtlinge kommen werden bis zum Eintreffen des Busses liegen oft nur 24 Stunden, heißt es vom Deutschen Städte- und Gemeindebund. Nicht selten muss dann erst einmal eine Turnhalle als Quartier herhalten.

Die oft schwierige Suche nach geeigneten Unterkünften bindet in den Verwaltungen erheblich Personal, das an anderer Stelle fehlt. In Hannover etwa können sich die Planungsbehörden fast nur noch um die Bereitstellung oder den Bau von Unterkünften kümmern. Das Problem: Immer, wenn gerade eine neue Lösung gefunden wurde, sind die Unterkünfte in Windeseile voll. Essens Oberbürgermeister Reinhard Paß rief vor wenigen Tagen einen Krisenstab ein. Ausgehend von den Flüchtlingszahlen stellt sich die Ruhrmetropole mit ihren fast 580.000 Einwohnern auf 5200 Asylbewerber ein. Trotz des Baus mehrerer Flüchtlingsdörfer fehlen dem Bürgermeister aber immer noch rund 1600 Plätze. "Wir müssen Massen-Obdachlosigkeit vermeiden", sagt Paß.

Die Stadt wisse, dass die sieben geplanten Zeltstädte nicht ideal seien, auch wenn sie mit festen Wänden unterteilt und klimatisiert seien, sagt Sprecherin Nicole Mause. Auf längere Sicht sollen in Essen deshalb Containerdörfer entstehen. Obwohl die Hersteller mittlerweile in drei Schichten produzieren, seien auf dem Markt inzwischen aber kaum noch Container zu bekommen, sagt Mause. Auch der Euskirchener Bürgermeister Uwe Friedl kommt - anders als viele seiner Kollegen - bislang ohne die Belegung von Turnhallen aus. Doch die Situation werde immer dramatischer. Die 406 Asylbewerber hat die Stadt zum größten Teil in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht, weitere in Wohnungen, die die Stadt angemietet hat.

Die Gefahr: Hält die Entwicklung an, wirkt sich das immer stärker auf den Alltag der Bürger aus. Wenn Sportvereine oder Schulen klagen, dass sie dauerhaft keine Trainings- und Sportmöglichkeiten mehr haben, könnte die überwiegend aufnahmebereite Stimmung umschlagen.

LASTEN DER BÜROKRATIE

Doch krankt es nicht nur am Geld: Vor Ort entpuppen sich viele Vorschriften als Hindernis, wenn es um den Bau von Unterkünften geht oder darum, leerstehende Gebäude zu nutzen. Deutsche und europäische Gesetze sind nicht für Krisensituationen geschaffen. Für den Bau von Containerdörfern und Unterkünften etwa ist ab einer einstelligen Millionensumme eine EU-weite Ausschreibung erforderlich - das verhindert schnelles Bauen.

Völlig skurril wirken nun plötzlich Vorgaben für eine bestimmte Zahl von Auto-Stellplätzen bei Neubauten, mahnt der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg. "Flüchtlinge kommen schließlich nicht mit dem Pkw." Die Kommunen drängen daher darauf, gesetzliche Vorgaben zu reduzieren. Verzichtet werden müsse auf alle Standards, die nicht die Statik, Sicherheit und den Brandschutz beträfen, fordert Landsberg. Denn Eile ist geboten, um zumindest flächendeckende Zeltlager im Winter zu vermeiden - dass aber alle Zeltunterkünfte rechtzeitig ersetzt werden können, glaubt kaum noch jemand.

Um Tempo zu machen, hat de Maiziere nun versprochen, die Gesetze zu durchforsten. Im September soll entschieden werden.

Bund und Länder nehmen zudem bereits zunehmend eigene leerstehende Immobilien in den Blick, um den Kommunen zu helfen. Laut Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen wurde schon in 18 ehemaligen Kasernen Platz für Flüchtlinge geschaffen.

KAMPF UMS GELD

Am Ende kreist auch hier fast alles ums Geld. Immer lauter beklagen die Kommunen, dass sie auf einer Vielzahl von Kosten sitzen bleiben. Essen beispielsweise rechnet nach Angaben von Sozialdezernent Peter Renzel mit Kosten von 50 bis 52 Millionen Euro für die Flüchtlingsbetreuung, 30 Millionen mehr als 2014. Davon bekommt die Stadt nach eigenen Schätzungen weniger als 20 Prozent vom Land Nordrhein-Westfalen erstattet. Die Kosten der Kommunen für Unterbringung, Versorgung und Integration müssten in vollem Umfang von Bund und Ländern übernommen werden, fordert deshalb der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg. Bislang agieren nur wenige Länder entsprechend großzügig, darunter Bayern.

Die genaue Höhe der Aufwendungen in diesem Jahr lässt sich bislang nicht exakt beziffern. "Klar ist jedoch, dass es sich um Kosten in deutlicher Milliardenhöhe handeln wird", sagt Landsberg zu Reuters. Berechnungen, die von zehn Milliarden Euro ausgehen, hält er keineswegs für unrealistisch. Für dieses Jahr hat der Bund bislang aber erst eine Milliarde Euro zugesagt. Gabriel spricht inzwischen von drei Milliarden Euro oder mehr, was auch von anderen Politikern in der Koalition als durchaus realistisch angesehen wird. Die Rekord-Steuereinnahmen kommen dem Bund da gerade recht. Bundesumweltministerin Barbara Hendricks hat zudem in Aussicht gestellt, die den Ländern bis 2019 zugesagten Mittel für den sozialen Wohnungsbau von 518 Millionen Euro zu verdoppeln.

Tatsächlich hat der Bund bereits zugesagt, dass er sich dauerhaft an den Kosten beteiligen wolle. Ständig neue Verhandlungen bei sich verändernden Flüchtlingszahlen soll es nicht mehr geben. Eine Möglichkeit ist etwa eine Pro-Kopf-Pauschale des Bundes. Eine Alternative wäre eine vollumfängliche Kostenerstattung. Bis zu dem für den 24. September geplanten Flüchtlingsgipfel der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten der Länder soll ein Modell stehen.

Aber die Haushälter in Berlin warnen längst, dass auf den Bund selbst hohe Mehrausgaben zurollen. Denn wenn über einen Asylantrag entschieden ist und dem Flüchtling Schutz gewährt wird, sind nicht mehr die Kommunen, sondern die Hartz-IV-Jobcenter zuständig für deren Existenzsicherung. Die Kosten für Arbeitslosengeld II und Unterkunft trägt dann der Bund zum großen Teil. Laut "Rheinischer Post" braucht Arbeitsministerin Andrea Nahles 2016 drei Milliarden Euro zusätzlich. Bezahlen muss der Bund auch die Impfungen der Neuankömmlinge.

DIE DUNKLE SEITE DER HILFE - ABSCHIEBUNGEN

Zudem muss die Politik die fast noch schwierigere Frage klären, wie die Zahl der einreisenden Menschen insgesamt begrenzt werden kann. Als besonderes Problem gelten dabei die Flüchtlinge vom Westbalkan, die vor der Armut in ihrem Land flüchten, nicht aber als politisch verfolgt gelten. Oft werden sie von Schleusern mit falschen Versprechungen oder fingierten Arbeitsverträgen nach Deutschland gelockt.

Im Juni hatten Bund und Länder daher beschlossen, die oft monatelangen Asylverfahren auf wenige Wochen zu verkürzen. Bis zum Abschluss der Verfahren sollen die Flüchtlinge künftig in einer der 26 Erstaufnahmeeinrichtungen bleiben und nicht erst auf die Städte und Gemeinden verteilt werden. Das Innenministerium will die Höchstdauer für die Unterbringung in einer Erstaufnahmeeinrichtung von drei auf sechs Monate erhöhen. Nicht anerkannte Flüchtlinge sollen dann gleich aus den Erstaufnahmezentrum abgeschoben werden. Im Gegenzug sollen Flüchtlinge etwa aus Syrien oder dem Irak, die in den meisten Fällen bleiben dürfen, ebenfalls schnell Klarheit erhalten und entsprechend integriert werden.

Allerdings stehen in den Erstaufnahmeeinrichtungen in Deutschland gerade mal gut 45.000 Plätze zur Verfügung. De Maiziere will diese auf 100.000 bis 150.000 erhöhen. Zudem soll das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das mit der Bearbeitung der Anträge nicht nachkommt, in diesem und im nächsten Jahr je 1000 neue Mitarbeiter erhalten. Kurzfristig helfen rund 200 Beamte von Zoll, Innenministerium und anderen Ressorts. Insgesamt sind rund 250.000 Verfahren offen.

Darüber hinaus sind sich die Koalitionspartner weitgehend einig, auch Kosovo, Albanien und Montenegro zu sicheren Herkunftsländern zu erklären. Die Koalition ist dafür im Bundesrat aber auf Stimmen der Grünen angewiesen - und die zieren sich.

Gerade bei den Abschiebungen steht die Koalition vor einer heiklen Aufgabe - denn sie müssen stark steigen, wenn etwa Flüchtlinge vom Balkan ohne Chance auf Anerkennung als Asylbewerber abgeschreckt werden sollen. Künftig sollen Abschiebungen weniger lang als bisher ausgesetzt werden können. Eine Zunahme ist bereits feststellbar: Nach Angaben des Bundesinnenministeriums lag die Zahl zur Jahresmitte um rund 2400 höher als im selben Zeitraum 2014, was einem Anstieg um rund 42 Prozent entspricht. Aber die realen Zahlen sind angesichts der Dimension des Problems immer noch winzig: 8178 Personen - davon 5464 Menschen aus den Westbalkanstaaten (66,8 Prozent) - wurden in den ersten sechs Monaten abgeschoben. Viele können gar nicht abgeschoben werden, weil im Heimatland ein Krieg tobt.

Um sich und den Menschen die Strapazen (und die Kosten) einer Abschiebung zu ersparen, soll eine Informationskampagne in den Westbalkan-Ländern die Menschen vor Ort aufklären. "Es geht darum, ein realistisches Bild zu zeichnen", sagt ein Sprecher von Minister de Maiziere. Um eine Einreise nach Deutschland weniger attraktiv zu machen, wird zudem diskutiert, bei Balkan-Flüchtlingen künftig Barzahlungen durch mehr Sachleistungen zu ersetzen.

VERSCHIEBUNG DER PROBLEME IN EUROPA

Über der Entwicklung in Deutschland schwebt allerdings ein weiteres, womöglich größeres Problem: Die Entscheidungen, wie viele Menschen woher überhaupt in die Bundesrepublik oder in andere EU-Staaten kommen, fallen andernorts - und sind ebenfalls besorgniserregend vielfältig. Im April hatte ein Schiffsunglück auf dem Mittelmeer mit mehreren hundert toten Flüchtlingen für einen Sondergipfel der EU-Regierungen gesorgt. Damals herrschte Ratlosigkeit, wie die Ziele "Menschen retten" und "EU-Grenzen schützen" wirklich in Einklang gebracht werden können.

Aber immerhin identifizierten die Staats- und Regierungschef die Vielfalt der Aufgaben. Sie reicht von der Armutsbekämpfung in afrikanischen Staaten über die Stabilisierung Libyens oder Syriens bis zur Schleuserbekämpfung. Angesichts der öffentlichen Stimmung entschied man sich, Flüchtlinge auf dem Mittelmeer selbst außerhalb der EU-Seegrenzen zu retten und sie in die EU zu bringen. Während Menschenrechtsgruppen diese Praxis begrüßen, bemängeln Kritiker, dass die EU damit letztlich ein Glied in der Transportkette von Schlepperbanden wird, die bewusst die Seeuntüchtigkeit der Boote einkalkulieren.

Aus Sicht vieler EU-Innenminister ist in der Folge auch die eigentlich sichere Schengen-Außengrenze offen wie ein Scheunentor geworden - was beispielsweise die Lage auf Lesbos zeigt. Zwar wird dies selten offen thematisiert, weil man keine Stimmung gegen Flüchtlinge schüren will. Aber wer auf Lesbos nach den Aktivitäten der griechischen Küstenwache fragt, erntet nur ein müdes Lächeln. "Das Problem ist, dass unsere Idee eines Europas ohne Grenze ... darauf aufbaut, dass es eine ordentliche Absicherung der Außengrenzen gibt", kritisiert Österreichs Außenminister Sebastian Kurz. Auch Merkel hatte im ARD-Sommerinteriew bereits gewarnt, dass das Prinzip der Reisefreiheit in der EU kippen könnte - das als eines der zentralen Errungenschaften und besten "Verkaufsargumente" für die europäische Integration gilt.

Aber es besteht die Gefahr einer fatalen Kettenreaktion. Denn eigentlich war im Gegenzug zur Aufnahme in den Schengenraum das Dublin-System vereinbart worden. Es sieht vor, dass Flüchtlinge ihre Verfahren in dem EU-Land machen müssen, in dem sie ankommen - das galt auch als Anreiz für die EU-Staaten an der Peripherie für strenge Grenzkontrollen. Nur hat die Masseneinwanderung die Spielregeln außer Kraft gesetzt: Griechenland winkt alle Flüchtlinge nur mehr oder weniger freundlich durch, Richtung Nordeuropa. Italien wird vorgeworfen, die Registrierung der Neuankömmlinge auch nicht gerade systematisch zu betreiben. Denn jeder Flüchtling, der sich in einen Zug nach Nordeuropa setzt, bedeutet eine Entlastung.

Vor allem das völlig überforderte Griechenland sieht die Flüchtlinge deshalb eher als "Transitproblem". Merkel erwähnte auf der Balkankonferenz eine paradoxe Situation: Weil der Europäische Gerichtshof Griechenland eine unwürdige Behandlung der Flüchtlinge attestiert hatte, dürfen Asylbewerber etwa aus Deutschland nicht Richtung Peleponnes zurückgeschickt werden. Gewollt oder nicht: Athen wird dafür belohnt, europäische Standards nicht einzuhalten.

Griechenland schippert die Menschen mit Fähren sogar nahe an die mazedonische Grenze, damit sie über Mazedonien und Serbien in Ungarn dann wieder in den Schengen-Raum einreisen können. "Beschämend" nennt Österreichs Außenminister Kurz diese Praxis. Denn nun bringt ein EU-Land die noch ärmeren Nicht-EU-Staaten Mazedonien und Serbien in enorme Probleme - zumal im Norden das EU-Mitglied Ungarn mit einem 174 Kilometer langen Zaun die Grenze dicht macht. Der serbische Außenminister Ivacic Dacic fordert deshalb dringend ein EU-Konzept in der Flüchtlingsfrage.

Ordnung in die europäische Debatte zu bekommen, ist nicht einfach. Denn fast alle Regierungen müssen Rücksicht auf die innenpolitische Stimmung nehmen. Rechtspopulistische Parteien sind in den meisten EU-Staaten schon jetzt sehr stark. Ohnehin hatte die EU schon vor der Zunahme der Flüchtlingszahlen eine Diskussion mit Großbritannien am Hals, das sich gegen eine als zu hoch empfundene Zuwanderung von EU-Binnenbürgern wehrt und deshalb die Freizügigkeit einschränken will. Auch die Frage, wie man etwa auf den Zuzug von Roma aus den EU-Mitgliedern Rumänien und Bulgarien reagieren solle, bewegt viele Regierungen. Nun kommen zu diesen "alten" Problemen die traumatisierten Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien und dem Irak.

Das macht eine angemessene Antwort schwierig. So fordern Serbien und Mazedonien einerseits Hilfe der EU wegen des Transitproblems ein - andererseits sollen sie selbst dafür sorgen, dass keine Flüchtlinge mehr aus ihren Ländern nach Norden ziehen.

Die EU-Debatte gleicht einem Flohzirkus. Überall greifen einzelne Regierung zu nationalen Abwehrmaßnahmen, wie etwas Ungarn mit dem Bau des Grenzzauns. Mit Sorge wird erwartet, dass sich die in Serbien stauenden Gruppen von Flüchtlingen, die an Schlepper für den Weg bis dorthin bereits sehr viel Geld gezahlt haben, nicht wieder kehrt machen. Vielmehr könnte die künftige "Balkanroute" durch Bulgarien oder Kroatien verlaufen. Für besonders viel Ärger sorgt der seit dem EU-Sondergipfel diskutierte Vorschlag, Griechenland und Italien als Flüchtlings-"Frontstaaten" dadurch zu entlasten, dass man Asylbewerber von dort auf die anderen Mitgliedstaaten verteilt.

Das Problem: Großbritannien oder Dänemark müssen sich mit ihren "Opt-Out"-Rechten ohnehin nicht beteiligen, was bereits böses Blut schafft. Und vor allem die Osteuropäer zieren sich. So sehr, dass Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi auf einem EU-Gipfel im Juni der Kragen platzte. Wenn dies Europa sei, könne es ihm gestohlen bleiben, wütete er. Merkel gibt ihm ausdrücklich Recht: Italien und Griechenland würden die nun vorgesehenen Registrierungszentren unter EU-Aufsicht in ihren Ländern doch nur akzeptieren können, wenn sie nicht befürchten müssten, auf allen Asylbewerbern sitzen zu bleiben.

CHANCE IN DER NOT?

Die Kanzlerin sieht aber auch eine Chance: Denn so groß die Gefahr sei, dass nationale Insellösungen die Union spalte, so groß sei die Möglichkeit, dass die Flüchtlingsfrage die Union weiter zusammenschweiße. "Das Asylthema könnte das nächste große europäische Projekt sein, wo wir zeigen, ob wir wirklich in der Lage sind, gemeinsam zu handeln", gab sie sich im ZDF-Sommerinterview hoffnungsvoll. Damit die Partner und die EU Tempo machen, haben Deutschland und Frankreich ein Maßnahmenpaket vorgelegt, das etwa die Registrierungszentren in Italien und Griechenland fordert. "Das europäische Projekt braucht eine Krise, um Probleme zu lösen", meint auch Leonard Doyle, Sprecher der Internationalen Organisation for Migration in Genf.

Die Einwände der Osteuropäer gegen ein pauschale Verteilung werden aber auch in Berlin als zumindest verständlich eingestuft: Denn den früheren Ostblock-Staaten, die jahrzehntelang Auswanderungs-Gesellschaften waren, sollen sich jetzt über Nacht in begeisterte Einwanderungs-Gesellschaften verwandeln. Auch Deutschland hat Jahrzehnte gebraucht, sich als Einwanderungsland zu verstehen. Polens Präsident Andrzej Duda verweist zudem darauf, dass das Land sehr viele Ukrainer aufnehme.

Im September soll jetzt ein neuer Anlauf für eine "faire" Verteilung unternommen werden. Außenminister Steinmeier warnt bereits, dass ansonsten die Akzeptanz für die Aufnahme in Ländern wie Deutschland sinke. Und Merkel mahnt, dass es bei dem Flüchtlingsthema für die EU um viel mehr gehe - die Glaubwürdigkeit des europäischen Gesellschaftsmodells. Europa habe einen Ruf als Hort der Menschenrechte und humanitäre Union zu verspielen. "Die Welt schaut auf uns", sagte sie nach einem Telefonat mit US-Präsident Barack Obama. "Europa als reicher Kontinent ist nach meiner festen Überzeugung in der Lage, die Probleme zu bewältigen."

(Mitarbeit: Matthias Sobolewski, Holger Hansen, Tom Körkemeier, Alastair Macdonald; redigiert von Alexander Ratz; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an die Redaktionsleitung unter den Telefonnummern 069-7565 1312 oder 030-2888 5168)

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