Konsum als Fundament: Was Anleger über Gewinnprognosen wissen sollten

Veröffentlicht am 12.06.2025, 07:41

Die meisten Anleger wissen: Wenn die Verbraucher mehr ausgeben, wächst die Wirtschaft – und mit ihr steigen auch die Unternehmensgewinne. Diese Erkenntnis ist zwar fast schon selbstverständlich, doch an der Wall Street scheint sie bei der Prognose künftiger Erträge manchmal in den Hintergrund zu rücken.

Wie wir kürzlich erörtert haben, zeigen die aktuellen Schätzungen von S&P Global, dass die Gewinne derzeit deutlich über dem langfristigen exponentiellen Wachstumstrend liegen, der bis ins Jahr 1936 zurückreicht. Doch historisch gesehen kehren die Earnings früher oder später – oft ausgelöst durch Konjunkturabschwünge, Finanzkrisen oder andere belastende Ereignisse – wieder in Richtung dieses Trends zurück.

Die folgende Grafik macht deutlich: Die Gewinne konnten sich noch nie dauerhaft an der oberen Grenze des langfristigen Wachstumskanals halten. Aktuell liegt dieser exponentielle Trend bei rund 195 USD pro Aktie.

Gewinnwachstum vs. langfristiger Trend  (logarithmische Skala)

Die zentrale Frage, die sich an dieser Stelle stellt, lautet: Was könnte einen so deutlichen Rückgang der Unternehmensgewinne auslösen? Leider gibt es darauf keine eindeutige Antwort – denn aus historischer Sicht war jede dieser Wendepunkte durch sehr unterschiedliche Ursachen geprägt.

Seit der Jahrtausendwende gab es nur einen Dotcom-Crash, nur eine Finanzkrise – und glücklicherweise auch nur eine COVID-Pandemie. Jedes dieser Ereignisse war einzigartig und kam für viele überraschend – doch alle führten zu ähnlichen Rückgängen beim Gewinnwachstum.

Für Anleger besonders relevant: Die Aktienkurse sind eng mit den Erwartungen an zukünftige Gewinne verknüpft. Und in jedem dieser Fälle kam es – wie in der folgenden Grafik zu sehen – zu deutlichen Kurskorrekturen, bei denen sich die Bewertungen wieder an realistischere Ertragserwartungen angepasst haben.

Jährliche Veränderung der Earnings

Wenn also die Gewinne, die für die kommenden Jahre erwartet werden, so eine zentrale Rolle für die Entwicklung der Märkte spielen, stellt sich für Anleger eine entscheidende Frage: Woher soll dieses zukünftige Ertragswachstum eigentlich kommen?

Woher kommen die Einnahmen?

Wie bereits erwähnt: Die Unternehmensgewinne hängen letztlich davon ab, wie viel die Verbraucher ausgeben. Schauen wir auf die klassische Gewinn- und Verlustrechnung, steht ganz oben der Umsatz, ganz unten der Nettogewinn. Dazwischen liegen zwei zentrale Blöcke: betriebliche Aufwendungen sowie sonstige Aufwendungen – also zum Beispiel Zinsen und Steuern.

Ein Begriff, der in diesem Zusammenhang häufig fällt, ist EBITDA – das Ergebnis vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen auf Sachanlagen und immaterielle Vermögenswerte. Es zeigt, wie profitabel ein Unternehmen im operativen Geschäft tatsächlich arbeitet – also dort, wo das Geld verdient wird (oder eben nicht).

Am Ende interessiert uns vor allem das Nettoeinkommen, also der tatsächliche Gewinn. Und um daraus eine vergleichbare Kennzahl zu machen, wird dieser Gewinn durch die Anzahl der ausstehenden Aktien geteilt – so ergibt sich der Gewinn pro Aktie, die Earnings per Share (EPS).

Gewinn- und Verlustrechnung

Wenn wir uns diese zentrale Kennzahl – den Gewinn pro Aktie – genauer anschauen, lohnt es sich, zuerst ganz oben in der Gewinn- und Verlustrechnung anzusetzen: beim Nettoumsatz. Je nach betriebswirtschaftlichem Kontext wird dieser auch einfach als Umsatz, Absatz oder Bruttoumsatz bezeichnet.

Denn klar ist: Ein Unternehmen kann nur dann Einnahmen erzielen, wenn es ein Produkt oder eine Dienstleistung verkauft. Die folgende Grafik zeigt, wie dieser Einnahmezyklus typischerweise aussieht.

Wenn wir also eine fundierte Einschätzung darüber treffen wollen, wie sich die Earnings in Zukunft entwickeln, müssen wir vor allem eines verstehen: Wie sich die Verbraucherausgaben entwickeln – denn sie geben die Richtung vor.

Zyklus der Unternehmenseinnahmen

Eine der besten Größen, um einen Rahmen für die künftige Gewinnentwicklung abzustecken, sind die Konsumausgaben der privaten Haushalte (PCE). Kein Wunder – sie machen fast 70 % der gesamten Wirtschaftsleistung aus.

Interessant dabei: Die jährliche prozentuale Veränderung der erwarteten Unternehmensgewinne folgt ziemlich eng der Veränderung beim PCE-Wert. Mit anderen Worten: Wenn die Konsumausgaben steigen oder fallen, spiegelt sich das meist kurz darauf auch in den Ertragsschätzungen wider.

Korrelation zwischen dem Konsum der Privathaushalte und den zu erwartenden Unternehmensergebnissen

Für die Datenfreaks unter Ihnen: Die Korrelation zwischen den Konsumausgaben (PCE) und den erwarteten Unternehmensgewinnen liegt bei etwas über 51 %. Das ist kein perfekter Wert – aber definitiv auch nicht zu vernachlässigen.

Wer sich die Abweichungen genauer anschaut, wird sehen: Die meisten Ausreißer stammen aus der jüngeren Vergangenheit – vor allem aus der Zeit der COVID-Lockdowns und den damit verbundenen massiven fiskal- und geldpolitischen Eingriffen.

Korrelation zw. PCE und den erwarteten Unternehmensergebnissen

Die Stärke der Verbraucherausgaben spielt also eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, die Erwartungen für zukünftige Unternehmensgewinne realistisch einzuschätzen.

Manipulationen der Betriebsergebnisse

Ich würde Ihnen allerdings nur die halbe Wahrheit erzählen, wenn ich an dieser Stelle nicht auch auf einen anderen wichtigen Punkt eingehen würde: die Möglichkeiten, wie Unternehmen ihre Gewinn- und Verlustrechnung beeinflussen können – und damit auch das Endergebnis.

In unserem Artikel über die Frage, warum „Schätzungen immer wieder übertroffen“ werden, haben wir das Thema bereits ausführlicher beleuchtet. Dort heißt es:

„Wenn die Wall Street auf bessere Ergebnisse hofft, steckt dahinter oft mehr als nur Optimismus. Viele Unternehmen erzielen ihr Gewinnwachstum vor allem durch Kostensenkungen.“

Das Problem dabei: Maßnahmen wie Stellenabbau, Lohnzurückhaltung, das Zurückhalten von Investitionen, Aktienrückkäufe oder bilanzielle Tricks haben nur begrenzte Wirkung – irgendwann ist das Potenzial ausgeschöpft.

Noch wichtiger: Anleger wissen das längst. Es sollte niemanden mehr wirklich überraschen, dass viele Unternehmen ihre „Bottom Line“ – also das ausgewiesene Nettoergebnis – bewusst steuern. Durch Rückstellungen, Reserven oder andere buchhalterische Spielräume lassen sich Gewinne glätten oder je nach Bedarf auch verschieben.

Eine frühere Wall Street Journal-Umfrage unter Finanzchefs war in diesem Zusammenhang besonders aufschlussreich:

„Die Tricks sind bekannt: Ein schwaches Quartal wird oft mit der Auflösung von Rücklagen geschönt oder durch vorgezogene Umsätze aufgepolstert. Gute Quartale wiederum nutzt man, um größere Umstrukturierungskosten zu verstecken, die sonst unangenehm auffallen würden.“

Noch überraschender war allerdings die Einschätzung der CFOs selbst: Auf die Frage, wie stark solche Maßnahmen die Gewinne tatsächlich verzerren, lag die durchschnittliche Antwort bei rund 10 % des Gewinns pro Aktie.

Manipulationen der Ergbenisse

Natürlich wäre es mehr als unehrlich, das offene Geheimnis hinter den Aktienrückkäufen nicht klar zu benennen.

Gewinnsteigerung durch Rückkäufe

Mehr denn je hängt heute ein großer Teil der Vergütung von Führungskräften direkt an der Kursentwicklung der Aktie. Schon das Verfehlen der Erwartungen der Wall Street kann erhebliche Kursverluste zur Folge haben.

Es überrascht daher kaum, dass in einer Umfrage des Wall Street Journal 93 % der befragten CFOs den „Einfluss auf den Aktienkurs“ und den „externen Druck“ als Hauptgründe für die bewusste Steuerung von Ertragszahlen nannten.

Wichtig für fundamental orientierte Anleger: Diese Form der Ergebnismanipulation kann die klassische Bewertungsanalyse erheblich verzerren – vor allem bei Kennzahlen wie KGV, EV/EBITDA oder PEG. Umsatzzahlen hingegen sind deutlich schwerer zu „glätten“ und liefern deshalb oft belastbarere Bewertungsmaßstäbe – etwa beim Kurs-Umsatz-Verhältnis oder der Relation von Unternehmenswert zu Umsatz.

Bei all den buchhalterischen Spielräumen und strategischen Rückkäufen ist eines entscheidend: ein klares Verständnis dafür, welche Rolle die Verbraucherausgaben für die künftige Gewinnentwicklung tatsächlich spielen.

Verbraucherstimmung und Konsumausgaben

Wenn – wie oben gezeigt – die Konsumausgaben der privaten Haushalte mit dem erwarteten Ertragswachstum korrelieren und dieses Ertragswachstum wiederum die Marktpreise beeinflusst, dann ist es für Anleger unerlässlich, zu verstehen, wohin sich die Konsumausgaben entwickeln könnten.

Doch was treibt die Ausgaben der Verbraucher eigentlich an?

Diesen Punkt haben wir bereits in unserem Artikel „Jobdaten zeigen: Die Wirtschaft verliert langsam an Schwung“ angesprochen: Konsum setzt Produktion voraus.

Oder einfacher gesagt: Ohne vorher etwas zu erwirtschaften, kann auch nichts ausgegeben werden. Einkommen entsteht durch Arbeit – und erst dieses Einkommen ermöglicht den Konsum.

Genau dieser Zusammenhang ist entscheidend – und wird in der folgenden Grafik gut sichtbar: Zuerst kommt die Produktion, dann folgt der Konsum.

Wirtschaftszyklus – zuerst wir produziert - erst dann konsumiert

Wenn sich Verbraucher zunehmend Sorgen um ihre finanzielle Lage machen – etwa wegen eines möglichen Jobverlusts, eingeschränkten Kreditmöglichkeiten oder steigender Lebenshaltungskosten – dann schlägt sich das direkt in der Verbraucherstimmung nieder.

Kein Wunder also, dass der Verbrauchervertrauensindex in den vergangenen Monaten zurückgegangen ist. Gründe dafür waren unter anderem Sorgen über neue Zölle, ein steigendes Rezessionsrisiko und eine sich abschwächende Beschäftigungslage.
(Durch die jüngsten Fortschritte bei den Zollverhandlungen dürfte sich dieses Risiko zwar etwas entschärfen – entsprechend könnte sich das Vertrauen mit den nächsten Arbeitsmarktdaten wieder etwas erholen.)

Trotzdem ist davon auszugehen, dass sich diese Unsicherheit zeitverzögert auch in den kommenden PCE-Berichten widerspiegeln wird – ein gewisser Rückgang bei den Konsumausgaben ist also nicht auszuschließen.

PCE vs Verbrauchervertrauen

Angesichts der engen Verbindung zwischen den PCE-Daten und den erwarteten Unternehmensgewinnen – und gleichzeitig zwischen den PCE und der Verbraucherstimmung – dürfte es wenig überraschen, dass auch zwischen der Verbraucherstimmung und den künftig erwarteten Erträgen eine deutliche Korrelation besteht.

Erwartungen für Unternehmensergebnisse vs Verbrauchervertrauen

Fazit

Auch wenn die Prognosen für die Unternehmensgewinne derzeit teils deutlich von den historischen Normen abweichen, sollten sich Anleger an den Fundamentaldaten orientieren, die diese Gewinne letztlich antreiben – allen voran: die Verbraucherausgaben.

So sehr sich die Wall Street immer wieder von den wirtschaftlichen Realitäten abkoppeln mag – eine Tatsache bleibt: Die Umsätze, also die Zahl ganz oben in der Gewinn- und Verlustrechnung, und die Gewinne ganz unten, die über Dividenden und Ausschüttungen entscheiden, sind eng mit der finanziellen Lage und dem Vertrauen der Verbraucher verknüpft.

Natürlich lassen sich Zahlen kurzfristig durch Rückkäufe oder bilanzielle Schönheitsoperationen aufpolieren. Aber solche Maßnahmen sind nicht nachhaltig – sie verschleiern allenfalls vorübergehend strukturelle Schwächen. Da die Konsumausgaben der privaten Haushalte den größten Teil der Wirtschaftsaktivität ausmachen und stark mit den erwarteten Unternehmensgewinnen korrelieren, kommt Veränderungen in der Verbraucherstimmung eine entscheidende Rolle zu. Und genau deshalb sollten sie auch eng beobachtet werden.

Um sich gegen mögliche Rückgänge bei den Unternehmensgewinnen abzusichern, können Anleger verschiedene strategische Maßnahmen in Betracht ziehen:

  • Risikomanagement durch regelmäßige Portfolioanpassung: Überkonzentrationen abbauen, schwache Positionen überprüfen und rechtzeitig umschichten.

  • Fokus auf Unternehmen mit robustem, transparentem Ertragswachstum – nicht auf jene, die ihre Zahlen durch Bilanztricks oder aggressive Kostensenkung „aufhübschen“.

  • Bewertung nach Umsatzkennzahlen, etwa Kurs-Umsatz-Verhältnis oder Unternehmenswert zu Umsatz – anstelle manipulationsanfälliger Größen wie KGV oder EBITDA.

  • Flexible Allokation, die sich an veränderte Konjunkturbedingungen anpasst – etwa durch Umschichtung in defensive Branchen bei sinkendem Verbrauchervertrauen.

  • Hedging-Strategien oder ein höherer Cash-Anteil, um Kapital in Phasen rückläufiger Unternehmensgewinne zu schützen.

Am Ende entscheidet nicht die Hoffnung auf starke Prognosen über den Anlageerfolg, sondern das klare Verständnis davon, worauf die Rentabilität von Unternehmen tatsächlich basiert – und das ist und bleibt der Konsum der privaten Haushalte.

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