- von Andreas Rinke
Berlin (Reuters) - Die Aufforderung wirkte nicht gerade wie ein Vertrauensbeweis in die Deutsche Post (DE:DPWGn).
Aber den hatte der Bundeswahlleiter auch gar nicht im Sinn, als er am Montag eine Warnung aussprach: Spätestens am heutigen Dienstag sollten Briefwähler ihre Unterlagen für die Bundestagswahl am Sonntag auf den Weg bringen, damit ihre Stimme nun sicher mitgezählt werden kann. Was früher eine bloße Schmunzette gewesen wäre, ist im Jahr 2017 absolut ernst zu nehmen, weil es Millionen betrifft. Denn laut einer Reuters-Umfrage steht Deutschland vor einem Rekordergebnis bei den Briefwählern: In München hatten nach Angaben der Stadt bis Montag 15.00 Uhr bereits 34,5 Prozent der Wähler Briefwahlunterlagen beantragt, abgeschickt oder abgegeben.
Zwar betonte der Bundeswahlleiter am Dienstag, dass keine Gesamtzahlen für die Bundesebene vorliegen. Denn zuständig sind die Kommunen, die ihre Ergebnisse erst am Sonntag offiziell weiterreichen. Aber alle befragten Städte meldeten am Dienstag teilweise stark steigende Zahlen. Das legt die Vermutung nahe, dass die Zahl der Briefwähler nach bereits 24,3 Prozent im Jahr 2013 diesmal an die 30-Prozent-Marke herankommen dürfte.
Das verändert vieles im Bundestagswahlkampf. Denn das aufgeregte Rennen der Parteien um die unentschlossenen Wähler in der letzten Woche vor dem 24. September erreicht viele Bürger gar nicht mehr. Die Wählerschaft driftet also immer weiter auseinander: Es gibt eine wachsende Gruppe von Unentschlossenen, die ihre Entscheidung erst in den letzten Stunden und Tagen treffen. Und es gibt gleichzeitig eine wachsende Gruppe der Frühentscheider. Alle Parteien haben deshalb 2017 erstmals ausgefeilte eigene Briefwahl-Kampagnen gefahren, um dieses Klientel zu erreichen.
Den Grund zeigt ein Rechenbeispiel: Bliebe die Wahlbeteiligung am Sonntag bei dem Wert von 71,5 Prozent im Jahr 2013, dann könnte rechnerisch fast die Hälfte der tatsächlich an der Bundestagswahl teilnehmenden Bürger ihre Entscheidung vor dem Sonntag bereits hinter sich haben. Weil Demoskopen wie bei den zurückliegenden Landtagswahlen auch am 24. September aber mit einer steigenden Wahlbeteiligung rechnen, könnte dieser Effekt zumindest nicht ganz so stark ausfallen.
Verfassungsrechtler haben dennoch bereits Bedenken angemeldet, ob mit der von Wahl zu Wahl steigenden Zahl an Briefwählern überhaupt noch die Anforderung einer nicht nur geheimen, sondern etwa auch allgemeinen, gleichen Wahl erfüllt ist. Denn wer drei Wochen vor dem 24. September abstimmt, kann nicht mehr auf spätere Entwicklungen in der Politik reagieren. Der "Tagsspiegel" zitierte etwa den Göttinger Staatsrechtler Alexander Thiele, der darauf verweist, dass die Briefwähler nicht einmal Einfluss darauf hätten, wenn Kanzlerkandidaten kurz vor der Wahl noch sterben würden.
Der IT-Sicherheitsexperte Jörn Müller-Quade vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) verweist zudem auf Sicherheitsbedenken, weil Wähler nicht wüssten, ob ihre Stimme mitgezählt werde - und es die Gefahr einer Beeinflussung durch Dritte bei einer Abstimmung zu Hause gebe. Thiele plädiert dafür, die Briefwahl wie vor 2005 nur im Ausnahmefall zu erlauben - etwa bei Nicht-Anwesenheit in Deutschland am Wahltag oder Erkrankungen. Bisher hatte das Bundesverfassungsgericht diese Bedenken verworfen, allerdings noch zu Zeiten, in denen der Anteil der Briefwähler sehr viel niedriger war.
TYPISCHER BRIEFWÄHLER LEBT IN STÄDTEN ODER IM SÜDEN
Dabei zeigen sich bei der Briefwahl bestimmte Muster, das macht auch die Reuters-Umfrage deutlich. Generell gilt: Im Süden und in Großstädten wird das Instrument stärker genutzt als im Norden und kleineren Städten. So steigt in einer Stadt wie Flensburg der Briefwähleranteil von 13,6 Prozent 2013 auf heute bereits 16 Prozent. In Hannover liegt der Wert mit 19 Prozent bereits jetzt ebenfalls über dem Briefwähler-Endergebnis von 2013 mit 17 Prozent. Und in Hamburg haben sogar 28,7 Prozent ihre Unterlagen bereits erhalten oder beantragt - 6,9 Prozentpunkte mehr als 2013.
Im Süden ist der Trend noch ausgeprägter. Stuttgart erwartet einen Wert von 30 Prozent, in Konstanz haben bereits 30,4 Prozent abgestimmt - und München verzeichnet sechs Tage vor der Wahl bereits die Rekordzahl von 34,5 Prozent. In etlichen bayerischen Gemeinden werden sogar Werte von mehr als 40 Prozent Briefwähler erwartet.
Wie sich die stärkere Nutzung der Briefwahl auf das Rennen der Parteien letztlich auswirkt, ist unklar. Denn auch die Briefwahlunterlagen werden erst am Sonntag nach Schließung der Wahllokale nach 18.00 Uhr ausgezählt. Vor allem Union und FDP hatten bei früheren Wahlen unter den Briefwählern überproportional viele Wähler. Das scheint sich etwa in Berlin jetzt zu bestätigen: Denn nach Angaben der Stadt lag der Briefwähleranteil am Dienstag bereits bei 25,8 Prozent - aber mit einer sehr starken Differenz zwischen den Bezirken: Im eher bürgerlichen Steglitz-Zehlendorf in Westberlin haben bereits 33,4 Prozent der Wähler ihre Stimme abgegeben oder ihre Unterlagen erhalten. In Marzahn-Hellersdorf in Ostberlin waren dies am Dienstag dagegen erst 19,4 Prozent.