(neu: Absätze 6-8: Weltsicherheitsrat, Klage vor IGH)
GAZA/TEL AVIV (dpa-AFX) - Israels Armee weitet nach eigenen Angaben ihre Einsätze in der Gegend um die Stadt Chan Junis im Süden des Gazastreifens aus. Das teilte das Militär in einer Erklärung am Freitag mit. Die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde im Gazastreifen gab unterdessen an, innerhalb eines Tages seien 187 Menschen getötet worden. Unabhängig überprüfen ließ sich diese Angabe nicht. Nach einem Jahr im Amt stehen Israels Regierung und Ministerpräsident Benjamin Netanjahu unter großem Druck.
Israel vermutet Hamas-Führungsspitze in Chan Junis
Zu den Einsätzen in der Gegend um Chan Junis hieß es von Israels Armee: "Die Soldaten eliminierten Terrorzellen mit Hilfe von Artillerie-, Luft- und Panzertruppen." In Wohnungen von Mitgliedern der islamistischen Hamas hätten Einsatzkräfte dort zudem Sprengstoff gefunden. Mit Sprengsätzen versehene Gebäude seien zerstört worden. In der Gegend fanden Soldaten den Angaben nach auch etliche Tunnel und Waffen. Die Angaben des Militärs ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.
Israel vermutet, dass sich in Chan Junis die Führungsspitze der islamistischen Hamas versteckt hält. Das Militär hatte die Einwohner der Stadt zuvor aufgefordert, sich weiter südlich in Rafah nahe der ägyptischen Grenze in Sicherheit zu bringen.
Auslöser des Kriegs war das schlimmste Massaker in der Geschichte Israels, das Terroristen der Hamas sowie anderer Gruppen am 7. Oktober in Israel verübt hatten. Israel reagierte mit massiven Luftangriffen und begann Ende Oktober mit einer Bodenoffensive. Angesichts der katastrophalen humanitären Lage in dem abgeriegelten Küstengebiet und der hohen Zahl ziviler Opfer geriet Israel zuletzt international immer mehr in die Kritik.
Hamas-Behörde: Viele Opfer an einem Tag
Bei israelischen Angriffen wurden nach Darstellung der Gesundheitsbehörde im Gazastreifen, die der Hamas untersteht, innerhalb eines Tages 187 Menschen getötet. 312 Palästinenser seien zudem verletzt worden, teilte die Behörde am Freitag mit. Die Zahl der insgesamt seit Kriegsbeginn im Gazastreifen getöteten Palästinenser stieg demnach auf 21 507. Zuletzt war die Zahl am Donnerstag mit 21 320 angegeben worden. Den jüngsten Angaben zufolge wurden zudem 55 915 weitere Menschen im Gaza-Krieg verletzt.
Die Zahlen lassen sich gegenwärtig nicht bestätigen, doch verweisen die UN und andere Beobachter darauf, dass sich die Zahlen der Behörde in der Vergangenheit als insgesamt glaubwürdig herausgestellt hätten. Vor dem Weltsicherheitsrat in New York betonte ein UN-Vertreter am Freitag unterdessen, dass sich die humanitäre Situation trotz der vor einer Woche verabschiedeten UN-Resolution zur Verstärkung der Hilfe für den Gazastreifen weiter verschlechtert habe.
Südafrika verklagt Israel vor UN-Gericht wegen "Völkermord"
Südafrika hat Israel vor dem höchsten Gericht der Vereinten Nationen Völkermord an den Palästinensern im Gazastreifen vorgeworfen. In der am Freitag eingereichten Klage beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag wird zudem verlangt, dass Israel zur Einstellung seiner Angriffe in Gaza aufgefordert wird, teilte der IGH mit. Südafrika machte demnach geltend, die Handlungen der israelischen Streitkräfte hätten "einen völkermörderischen Charakter", da sie auf die Vernichtung der Palästinenser in diesem Gebiet abzielen würden.
Israel wies die Anschuldigung Südafrikas umgehend und entschieden zurück. "Die Klage Südafrikas entbehrt sowohl der faktischen als auch der juristischen Grundlage", hieß es von einem Sprecher des israelischen Außenministeriums auf X. Juristen in Den Haag gehen davon aus, dass es eine erste Anhörung zu den Forderungen Südafrikas innerhalb weniger Wochen geben könnte. Sollte der IGH danach ein entsprechendes Verfahren eröffnen, könnten allerdings noch Jahre bis zu einem Urteilsspruch vergehen.
Ein Jahr im Amt - Israels Regierungschef Netanjahu unter Druck
Nach einem Jahr im Amt stehen Israels Regierung und Ministerpräsident Benjamin Netanjahu unter großem Druck. Das derzeitige Misstrauen der israelischen Öffentlichkeit gegen einen Regierungschef in Kriegszeiten sei beispiellos, meldete die Zeitung "Haaretz" am Freitag. Umfragen zufolge will die Mehrheit der Israelis, dass Netanjahu spätestens nach dem Ende des Gaza-Kriegs zurücktritt. Viele Menschen werfen ihm vor, bislang keine persönliche Verantwortung dafür eingeräumt zu haben, dass das Hamas-Massaker am 7. Oktober geschehen konnte.
Aber schon vor dem Terrorangriff hatte es in Israel immer wieder Massenproteste gegen Netanjahu und seine am 29. Dezember 2022 vereidigte Koalition gegeben. Die am weitesten rechtsstehende Regierung in der Geschichte Israels treibt eine höchst kontroverse Justizreform voran. In den Monaten vor dem Krieg stand sie in der Kritik, damit Israels Sicherheit und Einheit zu gefährden.
Israel könnte Staatskrise drohen
Bis Mitte Januar soll das Oberste Gericht in Israel über ein erstes Kernelement dieser Justizreform entscheiden. Israels Parlament in Jerusalem hatte die erste Gesetzesänderung Ende Juli trotz massiven Widerstands der Bevölkerung verabschiedet. Sie soll dem Obersten Gericht die Möglichkeit nehmen, gegen "unangemessene" Entscheidungen der Regierung, des Ministerpräsidenten oder einzelner Minister vorzugehen. In Israels Geschichte wurde bisher noch nie ein vergleichbares Gesetz vom Obersten Gericht einkassiert. Sollte dies geschehen und die Regierung die Entscheidung nicht akzeptieren, droht dem Land eine Staatskrise.
Zeitung "Haaretz" mutmaßt, Netanjahu wolle kein Ende des Kriegs
Vor einem Jahr kehrte der frühere Langzeit-Ministerpräsident Netanjahu nach 18 Monaten in der Opposition zurück an die Macht. In Israels Geschichte war niemand länger im Amt als der 74-Jährige. Ob sich Netanjahu angesichts des kolossalen Versagens am 7. Oktober nach dem Krieg als Regierungschef halten kann, ist ungewiss. Kritiker werfen ihm vor, das Erstarken der Hamas im Gazastreifen geduldet oder sogar gefördert zu haben. Laut jüngsten Umfragen würde gegenwärtig die Partei von Benny Gantz, Minister im Kriegskabinett, mit Abstand stärkste Fraktion werden. Die "Haaretz" mutmaßte bereits, Netanjahu wolle, dass der Krieg im Gazastreifen nie ende, um sich so lange es gehe, an der Macht zu halten.