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TEL AVIV/GAZA (dpa-AFX) - Angesichts des verheerenden Angriffs der im Gazastreifen herrschenden islamistischen Palästinenserorganisation Hamas hat Israel die Mobilisierung von rund 300 000 Reservisten angeordnet. Das Land steht damit möglicherweise vor einer militärisch wie diplomatisch riskanten Bodenoffensive in dem dicht besiedelten Küstenstreifen. Dies sei die größte Mobilisierung in der israelischen Geschichte in so kurzer Zeit, sagte ein Armeesprecher am Montag.
Die Hamas, die von den USA, der EU und Israel als Terrororganisation eingestuft wird, hatte am Samstag bei einem Großangriff auf das israelische Grenzgebiet unter Zivilisten das schlimmste Blutbad seit der israelischen Staatsgründung angerichtet. Dabei wurden mindestens 700 Menschen getötet und rund 2400 weitere verletzt.
Der israelische Oppositionsführer Jair Lapid sprach vom "blutigsten Tag" seit dem Holocaust. Große Sorge bereitete das Schicksal von rund 100 in den Gazastreifen verschleppten israelischen Geiseln und eine mögliche Ausweitung des Konflikts.
Auch für die rund zwei Millionen überwiegend armen Bewohner des Gazastreifens dürfte sich die Lage weiter extrem verschlechtern. Bei massiven israelischen Luftschlägen starben nach palästinensischen Angaben bisher mehr als 550 Menschen, mehr als 2800 wurden verletzt.
Israel ordnete die komplette Abriegelung des nur 40 Kilometer langen und sechs bis zwölf Kilometer breiten Gazastreifens an, der nur etwas größer als München ist. Verteidigungsminister Joav Galant sagte: "Es wird keinen Strom, keine Lebensmittel und keinen Treibstoff geben." Man habe es mit Barbaren zu tun. Energieminister Israel Katz verfügte einen Stopp der Wasserversorgung des Gazastreifens durch Israel. Das Grundwasser im Gazastreifen ist stark versalzen.
Unklar war, ob Ägypten humanitäre Hilfslieferungen über die südliche Grenze zulassen würde. Deutschland, die EU und andere Staaten wie Australien setzten Hilfen für die palästinensische Bevölkerung angesichts des Hamas-Terrors zunächst aus. Die deutschen Programme würden umfassend und mit offenem Ausgang überprüft, sagte eine Sprecherin des Ministeriums in Berlin.
Hamas-Terroristen waren am Samstag, dem jüdischen Feiertag Simchat Tora (Freude der Tora), in grenznahe Orte eingedrungen und auf der Suche nach Opfern von Haus zu Haus gegangen. Sie erschossen Männer, Frauen und Kinder und verschleppten andere in den Gazastreifen.
Bei einem Musikfestival in der Negev-Wüste wurden nach Angaben von Rettungskräften allein 260 überwiegend junge Teilnehmer von den Terroristen getötet. In sozialen Medien waren grauenvolle, nur schwer zu ertragende Bilder zu sehen.
Israel nimmt das Schicksal verschleppter Bürger extrem ernst. Die Dimension der jetzigen Geiselnahme wird erst angesichts eines früheren Falls wirklich deutlich. 2006 entführte die Hamas einen israelischen Soldaten, Gilad Schalit, hielt ihn fünf Jahre in Gaza gefangen, bis er 2011 nach jahrelangen Verhandlungen unter anderem unter Vermittlung eines deutschen Diplomaten gegen mehr als 1000 in Israel inhaftierte Palästinenser ausgetauscht wurde.
Unter den nun Verschleppten sind auch Bürger mehrerer westlicher Staaten, darunter eine Deutsche. Viele besitzen den Berichten zufolge die doppelte Staatsbürgerschaft.
Die Hamas forderte einen Gefangenenaustausch. Sie verlange die Freilassung von 36 inhaftierten Palästinenserinnen in Israel für die Übergabe von älteren entführten Israelinnen, sagte ein Hamas-Sprecher. Wie viele israelische Frauen ausgetauscht werden sollen, sagte er nicht. Der Golfstaat Katar vermittelt demnach. Ein Sprecher der israelischen Regierung wollte sich dazu nicht äußern.
Viele Israelis, die seit Jahrzehnten mit Gewalt konfrontiert sind, reagieren sind geschockt und wütend darüber, dass das hochgerüstete Land so überrumpelt werden konnte. "Das ist ein großes Versagen. Trotz der ganzen Technik, der Zäune und hohen Kosten, unglaublich", sagte ein israelischer IT-Spezialist in Tel Aviv der Deutschen Presse-Agentur.
Ähnlich wie nach dem Überraschungsangriff mehrerer arabischer Staaten auf Israel im Oktober 1973 im Jom Kippur-Krieg dürfte es nach dem Ende der heißen Phase des Konflikts viele Fragen an die Regierung sowie an die Geheimdienste und das Militär geben.
Die Armee reagierte mit massiven Bombardierungen des Gazastreifens. Es sei ein Gebäude angegriffen worden, in dem Angehörige der Hamas untergebracht waren, teilte die Armee mit. Auch mehrere Kommandozentralen der Hamas seien attackiert worden, darunter eine von Mahmad Kaschta, einem hochrangigen Mitglied der Marine. Eine Moschee in Dschabalia wurde in Schutt und Asche gelegt. Dort habe sich eine operative Einrichtung der Hamas befunden.
Die Möglichkeit einer israelischen Bodenoffensive in den Gazastreifen stand weiter im Raum. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte schon am Sonntag "Rache" geschworen. "Wir werden den Nahen Osten verändern", sagte er laut einer Mitteilung der Repräsentanten israelischer Ortschaften im Süden des Landes. "Was die Hamas erleben wird, wird hart und fürchterlich sein. Wir sind erst am Anfang."
Aufgabe der Armee sei es, die Hamas so zu schwächen, dass sie Israelis nicht mehr bedrohen könne, sagte ein Armeesprecher. Zugleich werde dafür gesorgt, dass die Hamas den Gazastreifen nicht mehr regieren könne.
In der israelischen Küstenmetropole Tel Aviv, in Jerusalem und anderen Städten Israels gab es auch am Montag Raketenalarm. Es wurde von Verletzten berichtet. Militante Palästinenser haben seit Samstag Tausende Raketen abgefeuert. Die meisten zielten auf Grenzorte zum Gazastreifen.
Am Montag erschoss die israelische Armee mehrere Bewaffnete im Norden des Landes, die vom feindlichen Nachbarland Libanon aus nach Israel eingedrungen waren. Das israelische Fernsehen berichtete, Einwohner im Norden seien angewiesen worden, in Schutzräumen zu bleiben. Die eng mit dem Iran verbündete Schiitenorganisation Hisbollah dementierte eine Beteiligung an dem Vorfall, auf den Israel mit Beschuss von Zielen im Süden des Nachbarlandes reagierte.
Der Weltsicherheitsrat konnte sich bei einer Dringlichkeitssitzung am Sonntag (Ortszeit) laut US-Medienberichten auf keine einmütige Verurteilung der islamistischen Hamas verständigen. Die Sorge ist groß, dass der Konflikt weitere Teile der Region erfassen könnte.