- von Andreas Rinke
Jena (Reuters) - Wenn Angela Merkel in den vergangenen Jahren aus dem Urlaub kam, schien sie meist im Kämpfermodus zu sein.
Frisch erholt wirkte sie, als hätte sie viele Dinge durchdacht und viele Entscheidungen in ihrem Kopf. Aber als sie am Dienstag in dem Technikmuseum Imaginata in Jena vor rund 60 Bürger tritt, wirkt sie eher nachdenklich. 90 Minuten lang versucht sie beim Thema "Sprechen wir über Europa" vor allem die Kompliziertheit der Politik und die Begrenztheit der politischen Möglichkeiten zu erklären. "Was ich sagen will: Europa ist mühsam, weil man natürlich über alles sprechen muss", antwortet sie etwa auf Frage, warum es nicht mehr Begeisterung für die EU gibt. Der Auftritt wirkt wie eine Warnung, dass Bürger nur enttäuscht werden können, wenn sie unrealistische Erwartungen an die Politik stellen.
Dabei war die Begegnung mit den von örtlichen Zeitungen ausgewählten Bürgern als erster größerer öffentlicher Auftritt der Kanzlerin nach ihrem Urlaub mit Spannung erwartet worden. Solche Termine gelten im politischen Berlin als Pulsmesser für die Stimmung der mächtigsten Frau Europas. Immerhin hatte Merkel vor der Sommerpause im Streit mit der CSU noch fast den Bruch der Union zu verkraften gehabt.
Der Auftritt in Jena ist dann von Unaufgeregtheit geprägt - im ehemaligen Umspannwerk vermittelt die Kanzlerin eher Gleichstrom-Stabilität. Detailsicher spult sie das Potpourri an Fragen zu Pflege, Landwirtschaft, Flüchtlinge, Brexit bis zur Pkw-Maut ab.
Dabei spukt ihr aber erkennbar Grundsätzlicheres im Kopf herum - nämlich die Funktionsweise der Demokratie. "Ja, ich habe Kompromisse gemacht, damit es überhaupt vorangeht", rechtfertigt sich Merkel etwa nach Kritik, dass Vieles zu langsam gehe. "Mein Plädoyer ist: Lasst uns den Kompromiss nicht schlecht machen", sagt sie und verweist auf berechtigte Interessen von 28 EU-Regierungen. Nur so könne Politik überhaupt funktionieren und das, was sie immer wieder als die Suche nach "Win-Win"-Situationen beschreibt.
Eigentlich wollte Merkel in Jena vor allem zuhören. Aber dann hakt sie immer wieder nach, will selbst erklären, warum sie etwas wie gemacht hat. Als mehrere Frauen mit Blick auf das Vorbild Emmanuel Macron von ihr mehr Leidenschaft für Europa fordern, wischt sie dies eher beiseite. "Sie haben Leidenschaft gefordert: Jeder hat da sicher seine eigenen Stärken", sagt Merkel knapp - und erklärt sofort wieder, was alles gemacht werden müsse. Überwölbende Sätze wie "Ich kann uns nur raten, Europa als einen Schatz zu begreifen", sagt sie in den 90 Minuten selten.
Dabei bekommt sie auch zu spüren, wie wenig sie mit einzelnen Positionen zumindest in Thüringen durchzudringen scheint. Als ein Mann sie fragt, warum man nicht syrische Flüchtlinge in Lagern in Jordanien und Libanon besser versorgt habe, verweist Merkel darauf, sie habe doch sehr selbstkritisch eingeräumt, dass dies ein entscheidender Fehler 2013 und 2014 gewesen sei - den gerade sie dann abgestellt habe. Als eine Frau erklärt, sie sei doch für einen Euro-Finanzminister, runzelt Merkel nur die Stirn und meint, dass genau das Gegenteil der Fall sei.
Teilweise wirkt der Auftritt in Jena deshalb wie ein Volkshochschulkurs, in dem Merkel erst einmal entscheidende Dinge erklären und gerade rücken will. Demokratie, so mahnt sie, sei eben nicht nur der Wille der Mehrheit, sondern auch die Wahrung der Rechte von Minderheiten. Das soll die spürbare Sehnsucht nach einer "Basta"-Politik bremsen, den Wunsch nach schnellen, klaren Entscheidungen in der Politik. Einem Landwirt stimmt sie bei der Forderung nach Bürokratieabbau erst zu - um ihm dann zu erklären, dass der Politik ohne Kontrollen aber schnell vorgeworfen wird, Missbrauch und Subventionserschleichung zuzulassen.
Erst nach mehr als einer Stunde fällt zum ersten Mal das Wort AfD. Eine junge Frau fragt, was die Kanzlerin denn tun wolle, um AfD-Wähler zu überzeugen, die doch nicht alle dumm seien, sondern sich Sorgen machten. Merkel nickt heftig. "Für mich bedeutet Menschen zu überzeugen, ... Probleme zu lösen", sagt sie und wirkt plötzlich sehr entschieden. "Meine Antwort heißt eindeutig: Probleme lösen und nicht darüber reden."