- von Thorsten Severin
Berlin (Reuters) - Zwei Tage vor dem SPD-Parteitag warnen Groko-Befürworter vor schwerwiegenden Folgen für Europa, Deutschland und die Sozialdemokratie, sollten die Delegierten Koalitionsverhandlungen ablehnen.
Mit einem generationen- und flügelübergreifenden Appell wandten sich Politiker aus Bund und Ländern am Freitag an die Delegierten und forderten sie zu einem Ja zu Verhandlungen auf. Auch aus Europa kamen Aufrufe, die SPD solle sich Verhandlungen nicht verschließen. Parteichef Martin Schulz warnte vor den Gefahren einer Neuwahl, sollte er sich mit seiner Linie nicht durchsetzen.
Bei einer Ablehnung von Koalitionsverhandlungen würde es ziemlich rasch zu Wahlen kommen, sagte Schulz dem "Spiegel". Die SPD müsse dann mit einem schlechteren Ergebnis rechnen. "Wenn es den Parteien nicht gelingt, mit den Mehrheiten im Bundestag eine Regierung zu bilden, würden sie von den Wählern abgestraft." Zudem müsse die SPD in dem Fall mit einem Programm in den Wahlkampf ziehen, das in großen Teilen mit dem Sondierungsergebnis identisch sei.
Der SPD-Vorsitzende unterstrich, er sei in die Politik gegangen, um zu gestalten. "Ich will nicht, dass die Altenpflegerin vier Jahre auf bessere Arbeitsbedingungen wartet, nur damit sich die SPD wohlfühlt." Zugleich dämpfte er Erwartungen, es könnten in den Koalitionsverhandlungen Änderungen an der Sondierungsvereinbarung mit der Union erzielt werden. Die SPD werde aber noch viele Themen ansprechen, die den Sozialdemokraten am Herzen lägen.
Landesminister, Vizefraktionschefs im Bundestag und Mitglieder des Parteivorstandes betonen in ihrem Aufruf, die SPD habe in den Sondierungen konkrete Verbesserungen in der Arbeitsmarkt-, Gesundheits-, Renten-, Bildungs- und Europapolitik durchgesetzt. [nL8N1PE225] Sie solle daher selbstbewusst in Verhandlungen über eine große Koalition eintreten.
Auch Europas Sozialdemokraten und Sozialisten dringen nach den Worten des Generalsekretärs der sozialdemokratischen Parteienfamilie in Europa (SPE), Achim Post, auf ein Ja. "Das Votum des SPD-Parteitages wird überall in Europa mit Hoffen und Bangen verfolgt", sagte der SPD-Vizefraktionschef der Nachrichtenagentur Reuters. Er bekomme mehr und mehr besorgte Anrufe, in denen die SPD gedrängt werde, Koalitionsverhandlungen zuzustimmen. Post mahnte, dass die SPD eine große europäische und internationale Verantwortung habe. In dem Sondierungspapier habe sie weitreichende Regelungen zu Europa durchsetzen können.
EU-Wirtschafts- und Währungskommissar Pierre Moscovici sagte der "Rheinischen Post" (Samstagausgabe), er wisse, dass die SPD mit sich ringe, das könne er gut verstehen. "Trotzdem will ich an die Sozialdemokraten appellieren: Europa schaut auf Euch und zählt auf Euch!" Deutschland brauche eine stabile und handlungsfähige Regierung. Auch die Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, betonte bei n-tv die Wichtigkeit der deutschen Regierung und lobte die Sondierungs-Einigung zum Thema Europa.
Der Parteitag berät am Sonntag in Bonn über die Empfehlung der Parteiführung, in Koalitionsverhandlungen einzusteigen. Der Ausgang der Abstimmung ist ungewiss. Insbesondere die Jusos machen Front gegen eine Neuauflage der großen Koalition und sehen gute Chancen, dass ihre Position eine Mehrheit findet.[nL8N1PD2Y9] Viele Landesverbände geben ein Bild der Zerrissenheit ab. Der nordrhein-westfälische Landeschef Michael Groschek erwartet aber, dass "eine überzeugte Mehrheit" mit Ja votieren wird. Die große Koalition gelte als Projektionsfläche für alles Leid, das die Sozialdemokratie empfinde. Sie sei jedoch nicht an allem schuld, sagte er der "Welt".
SPD-Vize Ralf Stegner kündigte für den Fall eines erneuten schwarz-roten Bündnisses eine härtere Gangart der SPD an. Einen "Vertragsbruch" wie beim Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit werde man sich nicht mehr gefallen lassen, sagte er "Focus Online". Er unterstrich, die SPD habe "wichtige Erfolge" in den Sondierungen erzielt.
ZWEI DRITTEL ERWARTEN JA DER SPD ZU VERHANDLUNGEN
Ähnlich äußerte sich die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer im ZDF. Man müsse aber über alle Themenfelder noch einmal sprechen. So gebe es außer der Bürgerversicherung noch andere Ansatzpunkte, um das Gesundheitssystem gerechter zu machen. Sie widersprach Kritikern einer Neuauflage der Groko, die eine Erneuerung der SPD in der Opposition für zwingend halten. "Oppositionsromantik ist auch keine Lösung", sagte sie dem "Spiegel".
Im ZDF-Politbarometer zeigt sich die Mehrzahl der Befragten überzeugt, dass das Ergebnis der Sondierungen wesentlich die Handschrift der Union trägt. Nur 24 Prozent waren der Ansicht, dass sich die SPD durchgesetzt habe. Fast zwei Drittel (64 Prozent) der Deutschen erwarten, dass die SPD am Sonntag den Weg für Koalitionsverhandlungen frei macht. In den Reihen der SPD-Anhänger glauben das sogar 75 Prozent. 45 Prozent fänden eine neue Regierung von CDU/CSU und SPD gut, 36 Prozent dagegen schlecht. Unter den Unions-Anhängern seien 68 Prozent für das Bündnis, bei den SPD-Anhängern 57 Prozent.