- von Holger Hansen
Berlin (Reuters) - Vom SPD-Schatzmeister Dietmar Nietan wird Deutschland am Sonntag erfahren, ob es Mitte März und damit fast sechs Monate nach der Bundestagswahl eine neue Bundesregierung geben wird.
Der 53-Jährige wird am Morgen gegen 09.00 Uhr mitteilen, was 120 freiwillige Helfer in der Nacht zum Sonntag ausgezählt haben: Haben die über 463.000 SPD-Mitglieder dem Koalitionsvertrag mit CDU und CSU per Briefwahl zugestimmt oder nicht? In der Parteispitze wird mit einem Ja gerechnet, aber zugleich auf die große Unbekannte verwiesen: Das ist die große Mehrheit der SPD-Mitglieder, die auf keiner Veranstaltung und keiner Sitzung des Ortsvereins auftauchen und von denen niemand weiß, wie sie zu einer Fortsetzung der großen Koalition stehen.
Juso-Chef Kevin Kühnert hofft dagegen auf einen Sieg der Gegner einer großen Koalition. "Ich bin optimistisch, dass wir in der Lage sind, diese Abstimmung zu gewinnen", sagte der Chef der SPD-Nachwuchsorganisation der Nachrichtenagentur Reuters. Ministerpräsidenten der SPD, wie Stephan Weil, Malu Dreyer und Manuela Schwesig, äußerten sich am Freitag allesamt überzeugt, dass der von ihnen mit ausgehandelte Koalitionsvertrag gebilligt werde. "Ich bin sehr zuversichtlich, dass das Mitgliedervotum am Sonntag positiv ausgeht", sagte SPD-Vize Schwesig.
Es wird allerdings mit einem deutlich knapperen Ausgang als im Dezember 2013 gerechnet, als sich fast 78 Prozent aller Mitglieder beteiligten, von denen rund 76 Prozent mit Ja stimmten. Seinerzeit ließ die SPD erstmals über einen Koalitionsvertrag die Mitglieder abstimmen, in der Erwartung, dass eine erneute große Koalition bei der Basis eher eine Mehrheit fände als auf einem von Funktionären und Amtsträgern bestimmten Parteitag.
Doch dieses Mal muss die Parteispitze nicht nur den Widerstand gegen ein erneutes Regierungsbündnis unter Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) überwinden, das der SPD bei der Bundestagswahl einen Absturz auf historisch schlechte 20,5 Prozent bescherte. Es geht auch um eine Führungs- und Vertrauenskrise. In der Partei gebe es ein Gefühl "Wir gegen Euch", sagt ein Mitglied des Parteivorstandes. "Es wird lange dauern, das Vertrauen wiederherzustellen." Dies werde die Aufgabe von Andrea Nahles sein, die am 22. April zur Parteichefin gewählt werden soll. Erstmals seit dem Jahr 2005 lägen Partei- und Fraktionsvorsitz der SPD dann wieder in einer Hand.
"NAHLES IST DIE RICHTIGE"
Auch die Gegner einer erneuten großen Koalition in der Parteispitze setzen ihre Hoffnungen auf Nahles. "Andrea ist die richtige als Parteivorsitzende", sagte ein Vorstandsmitglied. Sie könne Konflikte führen und wisse, wie wichtig eine innerparteiliche Debatte für die Lebendigkeit der Partei sei. Bei aller Zerrissenheit über das Für und Wider einer großen Koalition sei beim Mitgliedervotum positiv, dass es "endlich mal wieder Lust an der Debatte und an der inhaltlichen Auseinandersetzung" gebe. Dieser Schwung müsse mitgenommen werden für die inhaltliche und organisatorische Erneuerung.
Die Spitzen von Partei und Bundestagsfraktion wollen von Samstag bis Sonntagmittag in einer Klausur darüber beraten, wie der Erneuerungsprozess gestaltet werden kann. Generalsekretär Lars Klingbeil verweist darauf, dass seine Partei in den vergangenen 14 Monaten über 50.000 neue Mitglieder aufgenommen habe. "Der Hauptpunkt ist die inhaltliche Erneuerung der SPD", sagte Klingbei zu n-tv. "Wir müssen über neue Themen reden, das hat in den letzten Jahren gefehlt." Daneben gehe es um "mehr Vielfalt in unserer Partei" und eine stärkere Beteiligung aller Mitglieder etwa über neue digitale Möglichkeiten.
NAHLES MACHT KOALITIONSVOTUM NICHT ZUR PERSONALFRAGE
Die designierte SPD-Chefin hat ihre politische Zukunft nicht vom Ausgang des Mitgliederentscheides abhängig gemacht. "Ich verbinde mein Schicksal nicht damit", sagte Nahles der Funke-Mediengruppe. Sollte das Votum scheitern, "müssen wir alle zusammen sehr tapfer sein". In der Parteispitze wurde an mehreren Stellen die Erwartung geäußert, dass Nahles auch im Fall eines Neins zur großen Koalition für den Parteivorsitz bereitstünde und sicher von ihrer Wahl ausgehen könnte.
Sollte der Schatzmeister ein Ja der Genossen zum Gang in die Koalition verkünden, steht als nächstes die Entscheidung über die SPD-Ministerliste an. Am Sonntag ist damit nicht zu rechnen, Nahles will sich dafür "einige Tage" Zeit nehmen und gemeinsam mit dem kommissarischen Parteichef Olaf Scholz einen Vorschlag machen. Möglicherweise fällt eine Entscheidung erst am 12. März und damit kurz vor der geplanten Wiederwahl von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) durch den Bundestag.
Bislang ist offen, wer die sechs von der SPD beanspruchten Bundesministerien führen soll. Als sicher gilt, dass Hamburgs bisheriger Bürgermeister Scholz Finanzminister und Vizekanzler werden soll. Ebenso wird erwartet, dass Justizminister Heiko Maas und Familienministerin Katarina Barley wieder dabei sind - womöglich aber in anderen Ressorts, beide sind auch für das Auswärtige Amt im Gespräch. Ostdeutschland soll durch eine Frau am Ministertisch vertreten sein, ein Name kursiert dafür noch nicht. Für das Arbeits- und Sozialministerium wurde in der SPD zuletzt wieder vereinzelt Vizefraktionschef Hubertus Heil genannt.
Dem geschäftsführenden Außenminister Sigmar Gabriel werden kaum Chancen eingeräumt, im Kabinett zu bleiben. Nahles machte dies deutlich mit den Worten, die SPD-Minister müssten "als Team funktionieren": In der SPD ist bekannt, dass Nahles den einstigen SPD-Chef wegen seiner Alleingänge nicht für teamfähig hält.