Börsen-Zeitung: Wurzeln des Wachstums, Kommentar zu Siemens von
Michael Flämig
Frankfurt (ots) - Endlich. Nun wissen Investoren und Beschäftigte,
wohin Vorstandschef Joe Kaeser das Unternehmen Siemens führen will.
Es war höchste Zeit, denn schon seit August steht der Niederbayer an
der Spitze des Konzerns. Die nun vorgestellte "Vision 2020" enthält
eine Vielzahl von Weichenstellungen - wer die Details erfahren will,
muss sich durch ein halbes Dutzend Dokumente lesen. Doch eine Frage
bleibt: Geht der Wurf weit genug, um sich das Adjektiv "groß" zu
verdienen? Klar ist: Kaeser stellt den Konzern auf den Kopf, indem er
neue Divisionen schneidert. Es gibt kaum einen Beschäftigten, der von
den Änderungen nicht betroffen sein wird. Im Kern allerdings machen
der Vorstandsvorsitzende und sein Team das Gleiche wie Dutzende
andere neue CEOs vor ihm. Erstens definieren sie Wachstumsfelder.
Zweitens stellen sie ihre Firma schlanker auf, indem sie
Sparpotenziale identifizieren.
Dass sich dieses Muster auch im Fall Siemens wiederfindet, ist per
se weder schlecht noch gut. Es ist nur logisch. Denn die Welt lässt
sich eben nicht neu erfinden, nur weil man Kaeser heißt. Der
Siemens-Chef selbst weiß das gut genug. Er hat zwar "Vision 2020"
über seine Präsentation schreiben lassen, ordnet die Ideen aber
wiederholt wohltuend zurückhaltend als "Unternehmenskonzept" ein.
Erfreulich für die Investoren ist: Dieses Konzept ist in vielen
Einzelheiten sehr smart. Ein Beispiel: das Herausstellen der
Medizintechnik. Dieser Schritt allein wird zu einer Höherbewertung
der Aktivitäten durch den Kapitalmarkt führen - und dies pusht den
Konzernwert ohne operative Veränderungen. Die Fantasie eines
Börsengangs der Medizintechnik gibt weiteren Rückenwind. Der
Aktienkurs wird zusätzlich dadurch gestützt, dass Kaeser den
Aktionären einen höheren Anteil am Gewinn in Aussicht stellt.
Mittelfristig allerdings wird Siemens nur wertvoller, wenn der
Konzern die Wettbewerber aussticht. Wie soll das überproportionale
Wachstum gelingen? Kaeser schafft hierfür die Voraussetzungen, indem
er Hierarchieebenen streicht und Siemens so näher am Markt platziert.
Doch dies ist zwar eine Voraussetzung für den Erfolg, aber noch lange
keine Garantie. Dafür bräuchte Siemens mehr vermarktbare
Innovationen. Es ist ein Rätsel, warum dies seit Jahren nicht
ausreichend gelingt. Weil Siemens keine Premiumpreise mehr am Markt
erzielen kann, kommt die Bruttomarge nicht vom Fleck. Die Conclusio
lautet: Der Wurf, den Kaeser und sein Team am Mittwoch wagten, ist
richtig. Ob er groß wird, entscheidet sich erst in jahrelanger
operativer und innovativer Kärrnerarbeit.
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