- von Andreas Rinke und Holger Hansen und Thorsten Severin
Berlin (Reuters) - Union und SPD nähern sich der Entscheidung im Ringen um eine Neuauflage der großen Koalition.
Nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel von der Notwendigkeit "schmerzhafter Kompromisse" auf alle Seiten gesprochen hatte, verhandelten die Spitzen von CDU, CSU und SPD am Dienstag erneut stundenlang über die Streitpunkte Arbeitsrecht, Gesundheit, Außenpolitik und Finanzen. CDU-Vize Julia Klöckner und Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) äußerten sich am Nachmittag optimistisch, dass eine Einigung gelingen werde. Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) gab am Nachmittag bekannt, man habe sich geeinigt, dass die Ausgaben für die Bundeswehr und die Entwicklungshilfe im Verhältnis eins zu eins steigen sollen. Zahlen nannte er aber nicht. Im Hintergrund wurden erste Vorbereitungen von den Parteien getroffen, einen möglichen Koalitionsvertrag am Mittwoch zu präsentieren und dann auch den Bundestags-Fraktionen vorzustellen.
Der Abstimmungsreigen am zweiten Verlängerungstag der Koalitionsverhandlungen hatte mit deutlichen Warnungen sowohl Merkels als auch von SPD-Chef Martin Schulz begonnen. Die Kanzlerin verwies auf die Verluste an den Börsen, forderte eine stabile Regierung und betonte: "Wir leben in unruhigen Zeiten." Schulz unterstrich: "Es geht um nichts weniger, als dass in einem der größten Industrieländer der Welt eine stabile, dauerhafte Regierung gebildet werden kann, die den Herausforderungen international und national gerecht wird."
CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer hatte wegen etlicher offener Fragen schon am Morgen mit einer langen abschließenden Verhandlungsrunde gerechnet, aber auf die Stimmung in der Bevölkerung hingewiesen. Diese erwarte eine Einigung von CDU, CSU und SPD, sagte er. Ähnlich äußerten sich etliche SPD-Politiker am Nachmittag. Einer Insa-Umfrage für "Bild" zufolge kommen Union und SPD nur noch auf 30,5 und 17 Prozent.
Wie am Montag verhakten sich die Unterhändler auch am Dienstag lange bei der von der SPD geforderten Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverhältnissen und dem ebenfalls verlangten Ausstieg aus der "Zwei-Klassen-Medizin". Umstritten war im Bereich Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungshilfe zudem, wie man Mehrausgaben in einem Koalitionsvertrag verankern sollte. In den bisher vorgesehen 46 Millairden waren nur zusätzliche zwei Milliarden Euro bis 2021 für diese Bereiche vorgesehen.
Im Koalitionsvertrag soll auch die Ressortverteilung zwischen CDU, CSU und SPD geregelt werden. Gelingt die Einigung auf einen Vertrag, müssen die SPD-Mitglieder noch zustimmen. Dafür werden rund drei Wochen angesetzt. Erst nach einem "Ja" der Mitglieder könnte dann fünf Monate nach der Bundestagswahl eine neue Regierung gebildet werden. Hendricks sagte, dass ihrer Meinung nach die "NoGroko"-Kampagne in der SPD gegen eine Regierungsbildung ihren Zenit schon überschritten habe.
"Jeder von uns wird schmerzhafte Kompromisse noch machen müssen. Dazu bin ich auch bereit, wenn die Vorteile zum Schluss die Nachteile überwiegen", sagte Merkel. Der sich abzeichnende Koalitionsvertrag sei zwar sehr detailliert. Man dürfe bei allen Detailfragen aber nicht vergessen: "Es geht um das Wohl des Landes." SPD-Vize Manuela Schwesig wiederum forderte Zugeständnisse von CDU und CSU. Bei der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen und in der Gesundheitspolitik müsse die Union der SPD entgegenkommen.
Einer der Streitpunkte sind auch die Finanzen. In den Sondierungen hatten CDU, CSU und SPD vereinbart, dass eine neue Regierung einen zusätzlichen Finanzspielraum von 46 Milliarden Euro bis 2021 haben werde. In den Koalitionsverhandlungen haben die Fachpolitiker aber etliche weitergehende, kostenintensive Projekte vereinbart. Der CSU-Haushaltsexperte Hans Michelbach pochte deshalb vor den abschließenden Beratungen auf die Einhaltung der Grenze von 46 Milliarden Euro. "Alles andere kann natürlich bei besseren Zahlen dazukommen", sagte der CSU-Politiker. Aber man habe eine klare Grenze gezogen, dass es bei einem ausgeglichenen Haushalt bleiben müsse und es keine Steuererhöhungen gebe.
In der Endredaktion des Reuters vorliegenden Entwurfs des Koalitionsvertrages wurden etliche Projekte der Fachpolitiker wieder gestrichen - auch mit Blick auf ihre Kosten. Dazu gehört die vorgeschlagene Abschaffung der Luftverkehrssteuer sowie die steuerlich Sonderabschreibung für Unternehmens-Investitionen im Digitalbereich.