MÜNCHEN (dpa-AFX) - Appelle und Sanktionsdrohungen: Auf der Münchner Sicherheitskonferenz haben westliche Spitzenpolitiker die Führung in Moskau scharf vor einem Angriff auf die Ukraine gewarnt. "In Europa droht wieder ein Krieg", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz. US-Vizepräsidentin Kamala Harris sprach am Samstag von einem "Drehbuch russischer Aggression". "Wir erhalten jetzt Berichte über offensichtliche Provokationen und wir sehen, wie Russland Falschinformationen, Lügen und Propaganda verbreitet", sagte sie. Der britische Premierminister Boris Johnson warf Moskau vor, ein "Spinnennetz an Falschinformationen" aufzubauen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj rief auf der Sicherheitskonferenz zu mehr internationaler Unterstützung für sein Land auf und kündigte zugleich für den Fall eines russischen Angriffs entschlossenen Widerstand an. "Wir werden unser Land schützen, mit oder ohne Unterstützung unserer Partner", sagte Selenskyj.
Verteidigungsministerin Christine Lambrecht erteilte der von der Ukraine geforderten Lieferung von Waffen am Sonntag erneut eine Absage. Restriktive deutsche Richtlinien zur Rüstungsexportkontrolle seien längere Praxis und sollten unter Umständen auch verschärft werden. "Wir haben 80 Prozent Zustimmung in Deutschland für diese restriktive Politik", sagte sie. Auch sei deutlich geworden, dass zur Stärkung der Ukraine nicht alle Partner das Gleiche machen müssten. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borell warnte in der Diskussionsrunde mit Lambrecht, der Ausgang des Ukraine-Konflikts werde die künftigen politischen Verhältnisse bestimmen und entscheiden, ob sich eine machtbasierte Politik mit Einflusszonen durchsetze.
Die US-Vizepräsidentin erneuerte in München Dialogbereitschaft gegenüber Moskau, zeigte sich aber gleichzeitig pessimistisch. "Russland behauptet weiterhin, bereit für Gespräche zu sein, schränkt aber gleichzeitig die Möglichkeiten der Diplomatie ein", sagte sie. Das Handeln passe einfach nicht zu den Worten.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sagte in München: "Wir stehen, so unvorstellbar das klingen mag, vor der greifbaren Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung mitten in Europa." Man wisse aber nicht, ob ein Angriff bereits beschlossene Sache sei. Noch sei "die Geschichte nicht geschrieben". Noch gebe es einen einfachen Ausweg, den die russische Regierung jederzeit beschließen könne.
Für Besorgnis sorgte am Wochenende vor allem die Zuspitzung des Konflikts in der Ostukraine, wo sich bereits seit 2014 die Regierungsarmee und die von Russland unterstützten Separatisten gegenüberstehen. Im Westen wird befürchtet, dass Kremlchef Wladimir Putin die dortigen Kämpfe als einen Vorwand für einen Einmarsch in die Ukraine nutzen könnte, indem er behauptet, dass er die prorussische Bevölkerung in der Ostukraine schützen müsse.
Nach Angaben von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg gehören dazu auch Berichte über einen Rückzug russischer Streitkräfte aus dem Grenzgebiet zur Ukraine. "Trotz Moskaus Behauptungen haben wir bisher keine Anzeichen von Rückzug und Deeskalation gesehen. Im Gegenteil: Russlands Aufmarsch geht weiter", sagte er. Wie der belarussische Verteidigungsminister am Sonntag mitteilte, wollen Russland und Belarus ihre gemeinsamen Militärübungen weiter fortsetzen - damit werden russische Truppen vorerst nicht wie zuvor angekündigt aus Belarus abgezogen.
Kanzler Scholz sagte, Verhandlungen mit Russland müsse zwischen unhaltbaren Forderungen Moskaus und legitimen Sicherheitsinteressen unterschieden werden. Für nicht verhandelbar erklärte Scholz das Recht auf freie Bündniswahl, also auch die prinzipielle Möglichkeit für die Ukraine, der Nato beizutreten - auch wenn es in "naher Zukunft" nicht zu einem Nato-Beitritt des Landes kommen werde. "Gleichzeitig gibt es Sicherheitsfragen, die für beide Seiten wichtig sind. Allen voran Transparenz bei Waffensystemen und Übungen, Mechanismen zur Risikovermeidung oder neue Ansätze zur Rüstungskontrolle", sagte Scholz.
Beide Konfliktparteien rief Scholz auf, die Minsker Friedensvereinbarung für die zwischen prorussischen Separatisten und Regierungstruppen umkämpfte Ostukraine umzusetzen. "Natürlich mache ich mir keine Illusionen. Schnelle Erfolge sind nicht zu erwarten. Aber: Wir werden die Krisendynamik nur durchbrechen, wenn wir verhandeln."
Für den Fall eines Einmarsches in die Ukraine drohten Teilnehmer der Sicherheitskonferenz der russischen Führung erneut Vergeltung an. Die EU und ihre transatlantischen Partner arbeiteten weiter an einem robusten Paket finanzieller und wirtschaftlicher Sanktionen, auch in Sachen Energie und Spitzentechnologie, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. "Das riskante Denken des Kreml, das aus einem dunklen Gestern stammt, könnte Russland seine blühende Zukunft kosten."
Chinas Außenminister Wang Yi unterstützte auf der Münchner Sicherheitskonferenz Appelle für eine friedliche Lösung des Ukraine-Konflikts und eine Rückkehr zum Minsker Abkommen zur Beilegung des Konflikts. "Warum können sich nicht alle Seiten zusammensetzen und detailliert Gespräche führen und einen Zeitplan erarbeiten, wie dieses Abkommen umgesetzt werden kann?", sagte er am Samstag laut Übersetzung. "Das ist das, was alle Parteien tun sollten, worauf sie sich konzentrieren sollen - anstatt die Spannungen zu erhöhen, Panik zu schüren und vielleicht sogar noch das Risiko eines Krieges zu sensationalisieren.