Christine Lagarde, Präsidentin der EZB,
Luis de Guindos, Vizepräsident der EZB,
Frankfurt am Main, 23. Januar 2020
Sehr geehrte Damen und Herren, der Vizepräsident und ich freuen uns sehr, Sie zu unserer Pressekonferenz begrüßen zu dürfen. Wir werden Sie nun über die Ergebnisse der heutigen Sitzung des EZB-Rats informieren.
Auf der Grundlage unserer regelmäßigen wirtschaftlichen und monetären Analyse haben wir beschlossen, die Leitzinsen der EZB unverändert zu belassen. Wir gehen davon aus, dass sie so lange auf ihrem aktuellen oder einem niedrigeren Niveau bleiben werden, bis wir feststellen, dass sich die Inflationsaussichten in unserem Projektionszeitraum deutlich einem Niveau annähern, das hinreichend nahe, aber unter 2 % liegt, und dass sich diese Annäherung in der Dynamik der zugrunde liegenden Inflation durchgängig widerspiegelt.
Wir werden die Nettoankäufe im Rahmen unseres Programms zum Ankauf von Vermögenswerten (Asset Purchase Programme – APP) in einem monatlichen Umfang von 20 Mrd € fortsetzen. Wir gehen davon aus, dass sie so lange fortgesetzt werden, wie es für die Verstärkung der akkommodierenden Wirkung unserer Leitzinsen erforderlich ist, und dass sie beendet werden, kurz bevor wir mit der Erhöhung der EZB-Leitzinsen beginnen.
Wir beabsichtigen darüber hinaus, die Tilgungsbeträge der im Rahmen des APP erworbenen Wertpapiere für längere Zeit über den Zeitpunkt hinaus, zu dem wir mit der Erhöhung der Leitzinsen beginnen, bei Fälligkeit weiterhin vollumfänglich wieder anzulegen und in jedem Fall so lange wie erforderlich, um günstige Liquiditätsbedingungen und eine umfangreiche geldpolitische Akkommodierung aufrechtzuerhalten.
Heute beschloss der EZB-Rat darüber hinaus, mit einer Überprüfung der geldpolitischen Strategie der EZB zu beginnen. Weitere Informationen zu Umfang und Zeitplan dieser Überprüfung werden heute um 15:30 Uhr in einer Pressemitteilung bekannt gegeben.
Die seit unserer letzten Sitzung neu verfügbaren Daten stehen im Einklang mit unserem Basisszenario eines anhaltenden, aber moderaten Wirtschaftswachstums im Euro-Währungsgebiet. Vor allem die Schwäche im verarbeitenden Gewerbe bremst weiterhin die Wachstumsdynamik im Euroraum. Die Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft des Eurogebiets wird indes nach wie vor durch das anhaltende, wenn auch nachlassende Beschäftigungswachstum und steigende Löhne gestützt. Die Inflationsentwicklung bleibt zwar insgesamt weiter verhalten, es gibt jedoch einige Hinweise darauf, dass die zugrunde liegende Inflation im Einklang mit den Erwartungen leicht ansteigt.
Die derzeitigen geldpolitischen Maßnahmen unterstützen günstige Finanzierungsbedingungen in allen Wirtschaftssektoren. So begünstigen insbesondere die verbesserten Kreditbedingungen für Unternehmen und private Haushalte die Konsumausgaben und die Unternehmensinvestitionen. Dies wird das Wachstum im Euroraum, den Aufbau eines binnenwirtschaftlichen Preisdrucks und damit die deutliche Annäherung der Inflationsrate an unser mittelfristiges Ziel aufrechterhalten.
In Anbetracht der nach wie vor verhaltenen Inflationsaussichten ist es zugleich erforderlich, weiterhin für einen längeren Zeitraum einen äußerst akkommodierenden geldpolitischen Kurs zu verfolgen, um den Druck auf die zugrunde liegende Inflation und die Entwicklung der Gesamtinflation auf mittlere Sicht zu unterstützen. Wir werden daher die Inflationsentwicklung und die Wirkung der geldpolitischen Maßnahmen auf die Konjunktur genau beobachten. Unsere Forward Guidance wird sicherstellen, dass sich die Finanzierungsbedingungen im Einklang mit Änderungen der Inflationsaussichten entwickeln. In jedem Fall ist der EZB-Rat nach wie vor bereit, alle seine Instrumente gegebenenfalls anzupassen, um sicherzustellen, dass sich die Teuerungsrate – im Einklang mit der Verpflichtung des EZB-Rats auf Symmetrie – auf nachhaltige Weise seinem Ziel annähert.
Gestatten Sie mir nun, unsere Einschätzung näher zu erläutern und dabei mit der wirtschaftlichen Analyse zu beginnen. Das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Euroraums erhöhte sich im dritten Quartal 2019 um 0,3 % gegenüber dem Vorquartal, nachdem das Wachstum im zweiten Jahresviertel bei 0,2 % gelegen hatte. Dieser moderate Wachstumsverlauf spiegelt die fortdauernde Schwäche des Welthandels in einem Umfeld andauernder globaler Unsicherheiten wider, die insbesondere das verarbeitende Gewerbe im Eurogebiet belastet und auch das Investitionswachstum gedämpft haben. Trotz einer leichten Abschwächung in der zweiten Jahreshälfte 2019 bleiben der Dienstleistungssektor und das Baugewebe unterdessen widerstandsfähiger. Die aktuellen Wirtschaftsdaten und Umfrageergebnisse deuten auf eine gewisse Stabilisierung der Wachstumsdynamik im Eurogebiet hin, wobei sich die kurzfristigen Wachstumsraten ähnlich entwickeln dürften wie in den vorangegangenen Quartalen. Das Wachstum im Eurogebiet wird weiterhin von den günstigen Finanzierungsbedingungen, erneuten Beschäftigungszuwächsen bei steigenden Löhnen, dem leicht expansiven finanzpolitischen Kurs im Euroraum und dem anhaltenden, wenn auch etwas schwächeren, weltweiten Wirtschaftswachstum getragen.
Die Risiken für die Wachstumsaussichten des Eurogebiets, die mit geopolitischen Faktoren, zunehmendem Protektionismus sowie Anfälligkeiten in den aufstrebenden Volkswirtschaften zusammenhängen, sind nach wie vor abwärtsgerichtet, haben sich aber abgeschwächt, da die Unsicherheit im Zusammenhang mit dem Welthandel zum Teil nachlässt.
Die am HVPI gemessene jährliche Teuerung im Eurogebiet stieg im Dezember 2019 auf 1,3 % nach 1,0 % im Vormonat, was in erster Linie einem höheren Preisauftrieb bei den Energiepreisen geschuldet war. Ausgehend von den aktuellen Terminpreisen für Öl dürfte sich die Gesamtinflation in den nächsten Monaten um das derzeitige Niveau bewegen. Die Indikatoren der Inflationserwartungen liegen zwar nach wie vor auf einem niedrigen Niveau, sie haben sich aber zuletzt stabilisiert bzw. sind leicht angestiegen. Die Messgrößen der zugrunde liegenden Inflation haben sich insgesamt nach wie vor verhalten entwickelt, es gibt jedoch weitere Hinweise darauf, dass sie sich im Einklang mit den bisherigen Erwartungen geringfügig erhöhen. Obwohl sich der Arbeitskostendruck vor dem Hintergrund einer angespannteren Lage an den Arbeitsmärkten verstärkt hat, verzögert die schwächere Wachstumsdynamik das Durchwirken auf die Inflation. Getragen von unseren geldpolitischen Maßnahmen, dem anhaltenden Konjunkturaufschwung und soliden Lohnzuwächsen dürfte die Inflation auf mittlere Sicht zunehmen.
Was die monetäre Analyse betrifft, so lag das Wachstum der weit gefassten Geldmenge M3 im November 2019 bei 5,6 % und ist damit seit August weitgehend unverändert geblieben. Das fortgesetzte Wachstum ist auf die anhaltende Bankkreditvergabe an den privaten Sektor und die geringen Opportunitätskosten für das Halten von Komponenten der Geldmenge M3 im Vergleich zu anderen Finanzinstrumenten zurückzuführen. Betrachtet man die einzelnen Komponenten, so leistet das eng gefasste Geldmengenaggregat M1 nach wie vor den größten Beitrag zum Anstieg der weit gefassten Geldmenge.
Die Buchkreditvergabe an Unternehmen und private Haushalte verzeichnete weiterhin ein solides Wachstum. Dies war auf die anhaltende Unterstützung durch unseren akkommodierenden geldpolitischen Kurs zurückzuführen, der sich in sehr niedrigen Bankkreditzinsen widerspiegelt. Die Jahreswachstumsrate der Buchkredite an private Haushalte blieb mit 3,5 % im November unverändert gegenüber Oktober, während die Jahreswachstumsrate der Buchkredite an nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften von 3,8 % im Oktober auf 3,4 % im November zurückging. Grund für diese Abschwächung dürfte eine verzögerte Reaktion auf die vorangegangene Konjunkturabkühlung sein. Diese Entwicklungen lassen sich auch an den Ergebnissen der Umfrage zum Kreditgeschäft im Euro-Währungsgebiet für das vierte Quartal 2019 ablesen. Sie deuten auf eine sich abschwächende Nachfrage nach Buchkrediten an Unternehmen hin, während die Nachfrage nach Wohnungsbaukrediten an private Haushalte weiter zunahm. Die Kreditrichtlinien sowohl für Buchkredite an Unternehmen als auch für Wohnungsbaukredite an private Haushalte blieben jedoch weitgehend unverändert, was auf nach wie vor günstige Kreditangebotsbedingungen schließen lässt. Insgesamt gesehen wird unser akkommodierender geldpolitischer Kurs zur Wahrung sehr günstiger Kreditvergabebedingungen der Banken beitragen und in allen Wirtschaftssektoren den Zugang insbesondere kleiner und mittlerer Unternehmen zu Finanzmitteln weiter unterstützen.
Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Gegenprüfung der Ergebnisse der wirtschaftlichen Analyse anhand der Signale aus der monetären Analyse bestätigte, dass für eine fortgesetzte deutliche Annäherung der Inflation an ein Niveau von unter, aber nahe 2 % auf mittlere Sicht weiterhin eine umfangreiche geldpolitische Akkommodierung erforderlich ist.
Damit unsere geldpolitischen Maßnahmen ihre volle Wirkung entfalten können, müssen andere Politikbereiche entschlossener dazu beitragen, das längerfristige Wachstumspotenzial zu steigern, die Gesamtnachfrage zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu stützen und Schwachstellen abzubauen. Die Umsetzung von strukturpolitischen Maßnahmen muss in den Euro-Ländern deutlich intensiviert werden, um die Produktivität und das Wachstumspotenzial im Euroraum zu steigern, die strukturelle Arbeitslosigkeit zu verringern und die Widerstandsfähigkeit zu erhöhen. Die länderspezifischen Empfehlungen 2019 sollten als relevanter Wegweiser dienen.
Was die Finanzpolitik betrifft, so dürfte die Wirtschaft weiterhin einige Unterstützung durch den finanzpolitischen Kurs im Euroraum erhalten. Angesichts der trüben Konjunkturaussichten begrüßt der EZB-Rat die Forderung der Eurogruppe vom Dezember nach differenzierten finanzpolitischen Antworten und ihre Bereitschaft zur Koordinierung. Regierungen, die über fiskalischen Spielraum verfügen, sollten zu wirksamen und zeitnahen Maßnahmen bereit sein. In hoch verschuldeten Ländern müssen die Regierungen eine umsichtige Politik verfolgen und die Zielvorgaben für den strukturellen Finanzierungssaldo erfüllen, damit ein Umfeld entsteht, in dem automatische Stabilisatoren frei wirken können. Alle Länder sollten ihre Anstrengungen im Hinblick auf eine wachstumsfreundlichere Ausgestaltung der öffentlichen Finanzen intensivieren.
Außerdem ist eine im Zeitverlauf und länderübergreifend transparente und einheitliche Umsetzung des finanz- und wirtschaftspolitischen Steuerungsrahmens der Europäischen Union nach wie vor unerlässlich, um die Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft im Eurogebiet zu stärken. Die Verbesserung der Funktionsweise der Wirtschafts- und Währungsunion ist weiterhin eine Priorität. Der EZB-Rat begrüßt die aktuellen Anstrengungen und drängt auf weitere spezifische und entschlossene Schritte zur Vollendung der Bankenunion und der Kapitalmarktunion.
Wir sind nun gerne bereit, Ihre Fragen zu beantworten.
Der Wortlaut, auf den sich der EZB-Rat verständigt hat, ist der englischen Originalfassung zu entnehmen.
Europäische Zentralbank
Generaldirektion Kommunikation
Sonnemannstraße 20, 60314 Frankfurt am Main, Deutschland
Tel.: +49 69 1344 7455, E-Mail: media@ecb.europa.eu
Website: www.ecb.europa.eu
Nachdruck nur mit Quellenangabe gestattet.