Investing.com - Trotz der Angst vor einer Rezession, die sich in der tiefen Inversion der Zinsstrukturkurve widerspiegelt, konnte der US-Aktienmarkt bisher einen Großteil seiner jüngsten Erholungsgewinne behaupten. Seit seinen Tiefstständen im Oktober legte der S&P 500 bis gestern um rund 12 Prozent zu und konnte damit seine Verluste seit Jahresbeginn auf 16 Prozent eingrenzen. Mit 3.995 Punkten notiert der US-Leitindex nur knapp unter der psychologisch relevanten 4.000-Punkte-Marke und in Schlagdistanz zu seiner Glättung der letzten 200 Tage (aktuell bei 4.032). Die US-Bank Morgan Stanley (NYSE:MS) sieht nur ein Problem: die Unternehmensgewinne.
Nach Einschätzung von Lisa Shalett, Chefanlagestrategin von Morgan Stanley Wealth Management, bewertet der Markt die Unternehmensgewinne immer noch zu hoch. Der Optimismus der Aktienanleger, der auf der Hoffnung fußt, dass die Fed die Wirtschaft ausreichend verlangsamen kann, um die Inflation zu senken, ohne eine Rezession auszulösen, "spiegelt sich in den Konsensschätzungen für die Unternehmensgewinne im Jahr 2023 wider, die für den S&P 500-Index bei 230 Dollar je Aktie angesiedelt sind", schrieb sie am Montag in einer Mitteilung.
Dem hat Morgan Stanley allerdings etwas entgegenzusetzen: Denn auch ohne Rezession würden die Unternehmensgewinne aufgrund sinkender Absatzzahlen und einer geringeren Preissetzungsmacht sinken, weshalb die US-Bank ihre Gewinnschätzung für 2023 auf 195 Dollar je Aktie gesenkt habe, erklärte die Expertin.
"Unter Berücksichtigung von Faktoren wie dem Einkaufsmanagerindex (PMI), der Zinskurve und der Korrelation zwischen dem Gewinnwachstum und dem Zinserhöhungstempo der Fed gehen wir davon aus, dass das Gewinnwachstum im Jahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr wahrscheinlich deutlich negativ ausfallen wird", schrieb Shalett.
Bei den momentanen Konsensschätzungen von 230 Dollar pro Aktie beträgt das erwartete Kurs-Gewinn-Verhältnis für den S&P 500 (Stand aktuell: 3.995 Punkte) 17,4. Nimmt man nun das durchschnittliche KGV in Rezessionsphasen (14,5) und die Gewinnschätzungen von Morgan Stanley, so ergäbe sich daraus ein S&P 500-Stand von etwa 2.830 Punkten.
Morgan Stanley skizziert zwar zwei Szenarien, in denen Corporate America einen Rückgang der Unternehmensgewinne abwenden könnte. Doch diese sind nach Einschätzung der Analystin nicht sehr wahrscheinlich.
Zum einen verweist sie auf Kostensenkungsmaßnahmen der Unternehmen, wie etwa Stellenstreichungen, die einen Umsatzrückgang ausgleichen könnten. Dies sei allerdings ein "zweischneidiges Schwert", so Shalett. "Steigende Arbeitslosigkeit bremst die Verbraucherausgaben - ein wichtiger Motor für das Wirtschaftswachstum - und birgt das Risiko einer harten Landung für die Wirtschaft insgesamt", ergänzte sie.
In dem zweiten Szenario hebt sie die Stärke des US-Arbeitsmarktes hervor, wo die Arbeitslosenquote mit 3,7 Prozent immer noch nahe an einem Rekordtief liegt, sowie die Robustheit der US-Verbraucher, die im Jahr 2023 die Unternehmensgewinne hoch halten könnte. Andererseits aber könnte dies die Fed zu weiteren kräftigen Zinserhöhungen animieren und dafür sorgen, dass die hohen Zinssätze über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden, was wiederum "die Wirtschaft stärker ausbremsen" würde.
Die Fed hat gestern ihren Leitzins um weitere 50 Basispunkte auf die Spanne von nun 4,25 bis 4,50 Prozent angehoben, zugleich aber ihre Prognose für den Zinsgipfel 2023 auf 5,1 Prozent nach oben revidiert. Das sind 50 Basispunkte mehr als in den September-Projektionen. Fed-Chef Jerome Powell sagte auf seiner Pressekonferenz nach der Zinsentscheidung, dass Zinssenkungen im nächsten Jahr kein Thema seien. Der Markt hatte zuvor mit ersten Leitzinssenkungen gegen Ende 2023 gerechnet. "Unser Hauptaugenmerk liegt derzeit darauf, unsere Geldpolitik so zu gestalten, dass sie restriktiv genug ist, um eine Rückkehr der Inflation zu unserem 2-Prozent-Ziel im Laufe der Zeit zu gewährleisten, und nicht auf Zinssenkungen", zitierte Reuters den Fed-Chef.
Von passiven Investments in US-Aktienindizes rät die Expertin von Morgan Stanley ab. Diese sollten Anleger vor Jahresende mit Verlust verkaufen, um vom sogenannten 'Tax Loss Harvesting' zu profitieren, bei dem aufgelaufene Erträge in langfristige Kursgewinne umgewandelt werden. Stattdessen rät sie zu renditestarken Anlagen wie Staatsanleihen, Kommunalanleihen, Unternehmensanleihen und Master Limited Partnerships (MLPs), aber auch ausgewählte Dividendenaktien, Value-Aktien und REITs könnten interessant sein.
von Robert Zach