Die Europäische Zentralbank (EZB) überraschte die Anleger auf ihrer Sitzung mit einer aggressiven Botschaft. Sie untermauerte diese Botschaft mit einem klaren Fahrplan für die kommenden Monate, der den Ausstieg aus den Anleihenkäufen und aus den Negativzinsen vorsieht.
Weniger klar war die EZB in der Frage, wie sie die Spreads italienischer Staatsanleihen eindämmen würde, falls diese sich wieder ausweiten. Die Reaktion der Anleger blieb vorerst verhalten. Am Horizont zeichnen sich jedoch potenzielle Krisenherde ab, wie ein plötzlicher Stopp der russischen Gaslieferungen oder die Wahlen in Italien im Jahr 2023. Diese könnten zu erheblichen Belastungen für die Währungsunion führen.
Wir sind nach wie vor der Ansicht, dass die EZB aufgrund der schwächelnden Wirtschaft die von den Anlegern für 2023 erwartete aggressive Straffung nicht durchziehen wird.
Das Ende einer Ära
Die Entscheidung der EZB bestätigt, dass sie die Anleihenkäufe zum Ende dieses Monats beenden wird. Darüber hinaus hat die Bank angedeutet, dass sie ihren Leitzins im Juli und September anheben wird und ihn damit zum ersten Mal seit über zehn Jahren aus dem negativen Bereich herausführt. Die meisten Anleger erwarteten diese kurzfristigen Normalisierung in weiten Teilen. Doch die EZB überraschte viele, indem sie im Wesentlichen eine deutliche Zinserhöhung um 50 Basispunkte im September bestätigte - sofern sich die Inflationsaussichten nicht deutlich verschlechtern. Auf ihrer Pressekonferenz wies EZB-Präsidentin Lagarde darauf hin, dass die Entscheidung des EZB-Rates einstimmig gefallen sei. Diese Einstimmigkeit bestätigt unsere Ansicht, dass die Entscheidungsträger diese Änderungen als einen "Politik-Reset" betrachten und dass sie die Anleihenkäufe und negative Zinssätze nicht mehr für notwendig halten. Darüber hinaus zielt der EZB-Rat mit seiner aggressiven Haltung wahrscheinlich darauf ab, einen weiteren Anstieg der Inflationserwartungen oder des Lohnwachstums über ein Niveau hinaus zu verhindern, das mit dem Inflationsziel der EZB von 2 % vereinbar ist.
Italien besonders anfällig bei Energielieferstopp Russlands
Die Erklärung zur Geldpolitik enthielt kein Wort zu der gerüchteweise ins Gespräch gebrachten "Backstop"-Fazilität zur Verringerung der Spreads von Staatsanleihen der Peripherieländer. Es überrascht nicht, dass die Journalisten Präsidentin Lagarde wiederholt nach dem Engagement der EZB für den Zusammenhalt der Währungsunion fragten. Ihre Worte zeigten das klare Engagement der EZB, aber das Fehlen von Details bleibt ein Risiko. Im Moment scheint sich die Ausweitung der Spreads italienischer Anleihen in Grenzen zu halten. Dieses Risiko wird jedoch auf absehbare Zeit bestehen bleiben. Die Energiekrise in Europa könnte sich verschärfen, und Italien ist besonders anfällig für einen plötzlichen Stopp der Energielieferungen aus Russland. Unterm Strich könnte das Fehlen eines glaubwürdigen Rückhaltes die von der EZB vorgeschlagene Normalisierung einschränken.
Wie hoch können die Zinssätze gehen?
Es bleibt offen, ob die Wirtschaft des Euroraums Zinssätze von deutlich über 0 % verkraften kann. Der Schock über den Einmarsch Russlands in die Ukraine muss noch auf die Realwirtschaft durchschlagen. Wir gehen davon aus, dass die Wirtschaft in den kommenden Quartalen weiter unter Druck geraten wird, da der Impuls der Wiedereröffnung nach der Pandemie nachlässt, sich das globale Wachstum verlangsamt und die strengeren finanziellen Bedingungen kontinuierlich greifen. Die aktualisierte Prognose der EZB für das BIP-Wachstum 2023 von 2,1 % erscheint uns optimistisch. Wir schätzen das BIP-Wachstum des Euroraums im nächsten Jahr auf 1,3 %. Dieses Wirtschaftsbild legt nahe, dass der Leitzins der EZB in den kommenden Monaten schneller steigen wird als bisher erwartet. In einem Jahr wird der Leitzins jedoch bei knapp 1 % gedeckelt sein - deutlich niedriger, als die Anleger derzeit erwarten.
Große Besorgnis über europäische Inflation
Der Kurswechsel hat die Erwartungen der Anleger hinsichtlich einer Straffung der EZB über den Sechsmonatshorizont hinaus erhöht. Infolgedessen stiegen die sicheren Zinsen (Renditen deutscher Staatsanleihen) über die gesamte Renditekurve hinweg. Bemerkenswert ist, dass die Renditen zweijähriger deutscher Bundesanleihen seit Beginn der Invasion Russlands stärker gestiegen sind als die Renditen zweijähriger US-Staatsanleihen. Dies spiegelt den Grad der Besorgnis über die europäische Inflation wider. Allerdings sind die Wachstumsaussichten im Euroraum schwieriger als in den USA. Unseres Erachtens deutet dieser Hintergrund darauf hin, dass die Anleger die EZB-Politik derzeit zu aggressiv bewerten. Es ist schwer zu sagen, wann sich der Anstieg der Renditen im Euroraum angesichts des kurzfristigen Risikos einer höheren Inflation umkehren wird, aber wir glauben, dass die deutschen Renditen mittelfristig fallen werden.
Neben den offensichtlichen Sorgen über Stagflation und eine straffere Geldpolitik warf die EZB-Sitzung auch Fragen zur Finanzstabilität auf. Mit steigenden Zinssätzen steigt auch das Risiko, dass sich die Eurozone fragmentiert.
Die Marktteilnehmer sind es gewohnt, dass die EZB dieses Risiko vor dem Hintergrund einer niedrigen Inflation und einer lockeren Geldpolitik angeht. Doch dieses Mal weiten sich die Spreads der Peripherieländer aus, da sich die finanziellen Bedingungen verschärfen.
Es ist besorgniserregend, dass die EZB die Anleger nicht davon überzeugen konnte, dass sie einen Plan zur Bewältigung des Fragmentierungsrisikos bei sich verschärfenden finanziellen Bedingungen hat. Schlimmer noch, die EZB hat angedeutet, dass strengere finanzielle Bedingungen wünschenswert sind, um die ihrer Ansicht nach überhöhten Bewertungen auf bestimmten Vermögensmärkten zu reduzieren. Mit Blick auf die Zukunft zeichnet diese Sichtweise ein düsteres Bild für Risikoanlagen. Solange der Kampf gegen die Inflation die finanzielle Stabilität des Euroraums gefährdet, werden sich die Risikoprämien wahrscheinlich ausweiten. Dazu gehören die Renditeaufschläge für Anleihen der Peripherieländer, die Kreditaufschläge für Unternehmen und andere Risikoprämien.
Deutsche Anleihen im Fokus
Die Überraschung der EZB zielt darauf ab, die Inflationserwartungen und das Lohnwachstum einzudämmen. Infolgedessen erwarten wir, dass die Zinsen in den kommenden Monaten schneller steigen werden, als die Anleger bisher erwartet haben. Die Fähigkeit der EZB, die Zinsen zu erhöhen, wird jedoch durch das Fehlen eines detaillierten Plans zur Eindämmung der Spreads von Peripherieanleihen eingeschränkt. Das schwache Wirtschaftswachstum und das gedämpfte Lohnwachstum bedeuten auch, dass die Zinssätze in 12 Monaten wahrscheinlich niedriger sein werden als die aggressive Straffung, die die Anleger derzeit erwarten. An den Finanzmärkten haben die überraschenden Nachrichten die Anleiherenditen über die gesamte Renditekurve hinweg in die Höhe getrieben und den Risikoanlagen geschadet. Unserer Analyse zufolge preisen die Anleger in sicheren Anlagen (deutsche Staatsanleihen) jedoch einen zu aggressiven Pfad für die Leitzinsen und zu optimistische Wachstumsaussichten ein. Infolgedessen sehen wir Wertpotentiale darin deutsche Anleihen zu halten. Anleihen von Euro-Peripherie-Staaten, Unternehmensanleihen und andere Risikoaktiva bleiben dagegen anfällig. Die Kombination aus hoher Inflation, schwächerem Wachstum und strengeren finanziellen Bedingungen rechtfertigt die Vorsicht der Anleger.