- von Andreas Rinke
Tallinn (Reuters) - Emmanuel Macron konnte am Donnerstagabend gleich zweimal aufatmen.
Erst stellte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel in Tallinn in einem Gespräch mit dem französischen Präsidenten hinter die meisten seiner Reformvorschläge für die EU. Und dann versicherte auch noch der FDP-Vize Wolfgang Kubicki in einer Talkshow, dass Macron keine Angst vor den Liberalen haben müsse, die 80 Prozent seiner Vorschläge unterstützten. Auch wenn bisher gar nichts über die Angst französischer Präsidenten vor deutschen Liberalen bekannt war: Spätestens jetzt ist klar, dass die Sondierungsgespräche der CDU-Chefin mit FDP und Grünen zumindest in einem Feld keine Bremswirkung entfalten dürften - der Europapolitik.
Sowohl Merkel und Macron als auch EU-Ratspräsident Donald Tusk kündigten in Tallinn jedenfalls unberührt von den Ereignissen in Berlin schnelle Schritte für die Reformdiskussion in der EU an. Dies betreffe ein breites Themenspektrum von der Euro-Zone über die Verteidigung bis hin zur Asylpolitik, bei der die Bundesregierung gerne schon im Dezember Beschlüsse hätte.
MACRON BREMST NICHT - ER BESCHLEUNIGT DEBATTE
Dabei hatte es zunächst für Verwirrung gesorgt, dass Macron seine große europapolitische Rede nur zwei Tage nach der Bundestagswahl hielt. "Aber wir mussten und wollten eben schon vor der Bildung einer neuen Regierung in Berlin klar machen, was Frankreich will", erklärt ein französischer Diplomat Das Vorgehen. Merkel war nach intensiven Kontakten mit Macron ohnehin nicht überrascht. "Das Verhältnis der beiden ist so, dass man sich gegenseitige Überraschungen ersparen will", wird in Regierungskreisen sowohl in Paris wie in Berlin betont.
Das ändert nichts daran, dass in Tallinn aufmerksam darauf geachtet wurde, ob Macron Merkel die Führungsrolle in der EU abnehmen und die Kanzlerin nach den schweren Verlusten ihrer Partei bei der Wahl am Sonntag vielleicht als "lahme Ente" behandelt werden könnte. So zeigt die britische Zeitschrift "Economist" auf ihrem Titelbild Macron im Rampenlicht auf der Bühne, während Merkel dahinter im Schatten steht. Doch in Tallinn war davon nicht viel zu spüren.
Am Ende, so sagt ein baltischer Diplomat, zähle nur, dass Merkel Kanzlerin und Deutschland das ökonomische Kraftzentrum der EU bleibe - was etwa die neuen Arbeitsmarktdaten zeigten. Eine ganze Reihe von nord- und osteuropäischen Staaten sehen Merkel auch jetzt in einer Führungsrolle - gerade in der Debatte mit Frankreich über die Reformen etwa der Euro-Zone. Deshalb kündigte Merkel in der estnischen Hauptstadt auch eigene deutsche Vorschläge an.
Dass der französische Präsident nun mehr Aufmerksamkeit erhalte, werde überhaupt nicht negativ gesehen, wird zudem im Umfeld Merkels betont. Deutschland bekomme nach langen Jahren der französischen Schwäche und des Zauderns in Paris vielmehr endlich wieder einen ebenbürtigen Partner an die Seite. Die Kanzlerin hatte sich in den vergangenen Monaten ohnehin dagegen gewehrt, zur "letzte Anführerin der freien liberalen Welt", wie in der "New York Times" formuliert, stilisiert zu werden. Anders als Deutschland ist Frankreich etwa Veto-Macht im UN-Sicherheitsrat und spielt auf der globalen Bühne sowohl politisch als auch militärisch mit.
DAS ALTE ROLLENSPIEL PARIS-BERLIN IST ZURÜCK
Deshalb bedeutet die Macron-Rede eigentlich nur die Rückkehr zum alten EU-Modus, bei dem Frankreich und Deutschland zwei unterschiedliche Philosophien vertreten - aber beide die EU-Integration vorantreiben wollen. Vereinfacht gesagt: Französische Präsidenten sind zuständig für weitreichende Visionen, Deutschlands Kanzler für Haushaltsdisziplin, Wettbewerbsfähigkeit und Subsidiarität - also die Aufteilung der Kompetenzen zwischen Brüssel und den Mitgliedstaaten.
Einfach wird diese neue, alte Rollenverteilung nach Ansicht der Frankreich-Expertin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Claire Demesmay, allerdings nicht. "Die Partnerschaft mit Macron ist für Merkel zu wichtig, um sich ausgerechnet im aktuellen schwierigen Kontext der EU einen Streit zu leisten. Sie wird also guten Willen zeigen müssen", sagt Demesmay. Auch der CDU-Politiker Andreas Jung, Vorsitzender der deutsch-französischen Parlamentariergruppe, forderte, dass Deutschland nun auf Macron zugehen müsse.
So sei die Finanzierung von gemeinsamen Projekten sicherlich möglich, sowohl in der Verteidigungspolitik als auch der Migrations- und Asylpolitik, meint Demesmay. Allerdings erwartet sie durchaus Streit. "Was Macron im Kopf hat, ist ein qualitativer Sprung und ein gemeinsames dauerhaftes Budget in der Euro-Zone ist für ihn der Schlüssel." Das stimme zwar, wird wiederum in Berlin eingeräumt. "Allerdings ist Deutschland das kleinste Problem in dieser Debatte", heißt es. Verwiesen wird auf eine breite Phalanx von EU-Ländern, denen die französischen Vorstellungen viel zu weit gingen. Auch EU-Ratspräsident Donald Tusk sprach spöttisch von einem "Euro Vision Contest".
Innenpolitisch dagegen habe Macron der Kanzlerin sogar einen Gefallen getan. Seit Dienstag sei sowohl FDP als auch CSU klar, dass sie mit roten Linien in der Europapolitik vorsichtig sein müssten. "Das wird sicher auch in alle weiteren Beratungen zum Aufbau einer Bundesregierung einfließen", versicherte Merkel. In Tallinn machte sie auch klar, dass sie auf schnelle Reformschritte und nicht auf Abwarten der Koalitionsverhandlungen dringt. Entscheidungen über die Euro-Zone würden ohnehin erst fallen, wenn die neue deutsche Regierung längst stehe.