FRANKFURT (DEUTSCHE-BOERSE AG) - 15. Dezember 2011. Die Unsicherheit über die Bewertung der Brüsseler Beschlüsse beruht auf unterschiedlichen Einschätzungen, was das Sparen dem Euro bringt. In Sachen Stabilitätspakt wurde ein Durchbruch erzielt, der aber nicht reichen wird.
Noch ist das Urteil über den Brüsseler Gipfel zur Beendigung der Eurokrise nicht gesprochen. Die Aktienmärkte schwanken hin und her. Uneinigkeit besteht vor allem in der theoretischen Frage, ob man die Gemeinschaftswährung mit dem rigorosen Sparen der öffentlichen Haushalte, das in Brüssel beschlossen wurde, retten kann oder nicht.
In Deutschland neigen die meisten zu einem Ja. Wenn die Staaten sorgsamer mit ihren Finanzen umgegangen wären, wäre es nie zu den Problemen gekommen. In Washington und London, selbst in der so sparsamen Schweiz, hört man ein entschiedenes Nein. Sparen sei zwar wichtig. Dazu müsse aber kommen, dass die Europäische Zentralbank genügend Liquidität zur Verfügung stellt. Umso erstaunlicher ist, dass 26 von 27 EU-Mitgliedern dem Spar-Diktum zugestimmt haben. Ich möchte freilich nicht ausschließen, dass manch einer 'Ja' gesagt hat, der dies am Ende gar nicht so meint.
Aus meiner Sicht kann man für beide Positionen gute Argumente anführen. Für die orthodoxe deutsche Position spricht: Wenn alle Euromitglieder einen ausgeglichenen Haushalt erreichen, dann fassen die Investoren Vertrauen, sie kaufen wieder Staatsanleihen und die Märkte beruhigen sich. Die Eurokrise ginge zu Ende.
Zudem: Die Europäische Währungsunion beruht - neben der stabilitätsorientierten Geldpolitik - in der Tat entscheidend auf dem Grundsatz solider Staatsfinanzen. Das war nicht nur das Credo der Väter des Euro (vor allem von Finanzminister Theo Waigel). Es hat auch zehn Jahre gut funktioniert. Es gilt heute noch.
Bundesbankpräsident Weidmann sagte in seiner berühmten Kölner Rede, dass es auf dem Weg zu einer stabilen Währungsunion nicht zwangsläufig einen 'großen Sprung' mit einer Verlagerung der Verantwortung für die Verschuldung aus dem nationalen Bereich auf die europäische Ebene geben müsse. Es reiche durchaus, wenn der bisherige institutionelle Rahmen so fortentwickelt wird, dass eine wirkliche Stabilitätsunion entsteht. Diese Theorie dürfte auch der Haltung der deutschen Bundeskanzlerin Merkel in Brüssel zugrunde gelegen haben.
Insofern waren die Brüsseler Beschlüsse schon ein Durchbruch. In Sachen Stabilitätspakt ist die Welt nicht mehr so wie vorher. Aber - und das ist die andere Position - das reicht nicht. Um die Krise zu beenden bedarf es mehr.
Erstens braucht man gesamtwirtschaftliches Wachstum, um die Staatsschulden wieder in Ordnung zu bringen. Ohne Wachstum sind öffentliche Defizite noch nie dauerhaft zurückgegangen. Sparen per se dämpft die wirtschaftliche Aktivität. Es muss also durch Impulse zur Anregung der wirtschaftlichen Aktivität ergänzt werden. Das können Strukturreformen, zum Beispiel am Arbeitsmarkt sein, ein Abbau der Bürokratie, Privatisierungen öffentlicher Betriebe oder eine Förderung der Innovationen. Alles Dinge, die kein oder nur wenig Geld kosten.
Zweitens ist der Blick auf die finanzpolitischen Stabilitätskriterien zu eng. Spanien beispielsweise hatte (siehe Grafik) von 1999 bis 2009 nicht ein einziges Mal die Maastricht-Kriterien verletzt. Es galt in der Union damals als finanzpolitischer Musterknabe. Trotzdem hat es in dieser Zeit durch den Immobilien-Boom erhebliche Leistungsbilanzungleichgewichte aufgebaut. Sie brachen dem Land am Ende das Genick und brachten es in Schwierigkeiten. Wenn man mit Pakten arbeiten will, dann darf es nicht nur ein Fiskalpakt sein, sondern ein umfassenderer Wirtschaftspakt.
Drittens kann sich moderne Finanzpolitik nicht auf den Haushaltsausgleich beschränken. Jeder Student der Volkswirtschaftslehre weiß, dass zur Allokations- und Umverteilungsaufgabe der öffentlichen Haushalte auch die Stabilisierungsfunktion kommen muss. Der Wirtschaftsablauf soll geglättet werden. Das könnten im Prinzip zwar auch die Nationalstaaten unabhängig voneinander tun. Dann besteht aber immer die Gefahr des Trittbrettfahrens: Ein Land schert aus und verlässt sich darauf, dass die anderen schon alles tun werden, um die Konjunktur zu stabilisieren.
Viertens schließlich, hat in der Geschichte noch nie eine Währungsunion funktioniert, in der es keine politische Union gab. Die Stabilitätsunion kann zwar einige Jahre gut gehen, aber wenn es wirklich zur Sache kommt, dann wird sie auseinanderfallen. Das war bei der Lateinischen Münzunion genauso der Fall wie bei der Nordischen Münzunion. Sie zerbrachen mit dem Beginn des ersten Weltkrieges 1914 (auch wenn sie formal noch einige Jahre länger bestand).
Mein Fazit daraus: Wir sollten die Fortschritte, die in Brüssel in Richtung auf eine Stabilitätsunion erreicht wurden, nicht gering schätzen. Sie können wenigstens vorübergehend zu einer Stabilisierung der Verhältnisse führen. Langfristig entscheidend für die Überwindung der Eurokrise ist freilich, dass a) die Beschlüsse auch wirklich umgesetzt werden, dass sie b) um Wachstumsimpulse ergänzt werden und dass es c) mehr Integration gibt.
Für den Anleger
Beobachten Sie genau, was die einzelnen Staaten auf diesen Gebieten in den nächsten Monaten tun. Bis die juristischen Grundlagen für das neue Gebäude gelegt sind, wird es noch viele Stolpersteine und Irritationen für die Märkte geben. Bedenken Sie beispielsweise, dass der Lissabon-Vertrag wegen Großbritanniens Veto um 325 einzelne bilaterale Verträge ergänzt werden muss. Es dauert, also selbst bei optimistischen Annahmen noch einige Zeit, bis der Euro aus dem Gröbsten heraus ist.
Anmerkungen oder Anregungen? Martin Hüfner freut sich auf den Dialog mit Ihnen: redaktion@deutsche-boerse.com.
© 15. Dezember 2011/Martin Hüfner
Martin W. Hüfner ist Chief Economist bei Assenagon Asset Management S.A. Er war viele Jahre Chefvolkswirt beziehungsweise Senior Economist bei der HypoVereinsbank und der Deutschen Bank. In Brüssel leitete er den renommierten Wirtschafts- und Währungsausschuss der Chefvolkswirte der Europäischen Bankenvereinigung. Hüfner schreibt für große internationale Zeitungen wie die Neue Züricher Zeitung oder die Schweizer Finanz und Wirtschaft sowie für große Zeitungen in Deutschland. Er ist Autor mehrerer Bücher, u. a. 'Europa - Die Macht von Morgen' und 'Comeback für Deutschland'.
(Für den Inhalt der Kolumne ist allein Deutsche Börse AG verantwortlich. Die Beiträge sind keine Aufforderung zum Kauf und Verkauf von Wertpapieren oder anderen Vermögenswerten.)
Noch ist das Urteil über den Brüsseler Gipfel zur Beendigung der Eurokrise nicht gesprochen. Die Aktienmärkte schwanken hin und her. Uneinigkeit besteht vor allem in der theoretischen Frage, ob man die Gemeinschaftswährung mit dem rigorosen Sparen der öffentlichen Haushalte, das in Brüssel beschlossen wurde, retten kann oder nicht.
In Deutschland neigen die meisten zu einem Ja. Wenn die Staaten sorgsamer mit ihren Finanzen umgegangen wären, wäre es nie zu den Problemen gekommen. In Washington und London, selbst in der so sparsamen Schweiz, hört man ein entschiedenes Nein. Sparen sei zwar wichtig. Dazu müsse aber kommen, dass die Europäische Zentralbank genügend Liquidität zur Verfügung stellt. Umso erstaunlicher ist, dass 26 von 27 EU-Mitgliedern dem Spar-Diktum zugestimmt haben. Ich möchte freilich nicht ausschließen, dass manch einer 'Ja' gesagt hat, der dies am Ende gar nicht so meint.
Aus meiner Sicht kann man für beide Positionen gute Argumente anführen. Für die orthodoxe deutsche Position spricht: Wenn alle Euromitglieder einen ausgeglichenen Haushalt erreichen, dann fassen die Investoren Vertrauen, sie kaufen wieder Staatsanleihen und die Märkte beruhigen sich. Die Eurokrise ginge zu Ende.
Zudem: Die Europäische Währungsunion beruht - neben der stabilitätsorientierten Geldpolitik - in der Tat entscheidend auf dem Grundsatz solider Staatsfinanzen. Das war nicht nur das Credo der Väter des Euro (vor allem von Finanzminister Theo Waigel). Es hat auch zehn Jahre gut funktioniert. Es gilt heute noch.
Bundesbankpräsident Weidmann sagte in seiner berühmten Kölner Rede, dass es auf dem Weg zu einer stabilen Währungsunion nicht zwangsläufig einen 'großen Sprung' mit einer Verlagerung der Verantwortung für die Verschuldung aus dem nationalen Bereich auf die europäische Ebene geben müsse. Es reiche durchaus, wenn der bisherige institutionelle Rahmen so fortentwickelt wird, dass eine wirkliche Stabilitätsunion entsteht. Diese Theorie dürfte auch der Haltung der deutschen Bundeskanzlerin Merkel in Brüssel zugrunde gelegen haben.
Insofern waren die Brüsseler Beschlüsse schon ein Durchbruch. In Sachen Stabilitätspakt ist die Welt nicht mehr so wie vorher. Aber - und das ist die andere Position - das reicht nicht. Um die Krise zu beenden bedarf es mehr.
Erstens braucht man gesamtwirtschaftliches Wachstum, um die Staatsschulden wieder in Ordnung zu bringen. Ohne Wachstum sind öffentliche Defizite noch nie dauerhaft zurückgegangen. Sparen per se dämpft die wirtschaftliche Aktivität. Es muss also durch Impulse zur Anregung der wirtschaftlichen Aktivität ergänzt werden. Das können Strukturreformen, zum Beispiel am Arbeitsmarkt sein, ein Abbau der Bürokratie, Privatisierungen öffentlicher Betriebe oder eine Förderung der Innovationen. Alles Dinge, die kein oder nur wenig Geld kosten.
Zweitens ist der Blick auf die finanzpolitischen Stabilitätskriterien zu eng. Spanien beispielsweise hatte (siehe Grafik) von 1999 bis 2009 nicht ein einziges Mal die Maastricht-Kriterien verletzt. Es galt in der Union damals als finanzpolitischer Musterknabe. Trotzdem hat es in dieser Zeit durch den Immobilien-Boom erhebliche Leistungsbilanzungleichgewichte aufgebaut. Sie brachen dem Land am Ende das Genick und brachten es in Schwierigkeiten. Wenn man mit Pakten arbeiten will, dann darf es nicht nur ein Fiskalpakt sein, sondern ein umfassenderer Wirtschaftspakt.
Drittens kann sich moderne Finanzpolitik nicht auf den Haushaltsausgleich beschränken. Jeder Student der Volkswirtschaftslehre weiß, dass zur Allokations- und Umverteilungsaufgabe der öffentlichen Haushalte auch die Stabilisierungsfunktion kommen muss. Der Wirtschaftsablauf soll geglättet werden. Das könnten im Prinzip zwar auch die Nationalstaaten unabhängig voneinander tun. Dann besteht aber immer die Gefahr des Trittbrettfahrens: Ein Land schert aus und verlässt sich darauf, dass die anderen schon alles tun werden, um die Konjunktur zu stabilisieren.
Viertens schließlich, hat in der Geschichte noch nie eine Währungsunion funktioniert, in der es keine politische Union gab. Die Stabilitätsunion kann zwar einige Jahre gut gehen, aber wenn es wirklich zur Sache kommt, dann wird sie auseinanderfallen. Das war bei der Lateinischen Münzunion genauso der Fall wie bei der Nordischen Münzunion. Sie zerbrachen mit dem Beginn des ersten Weltkrieges 1914 (auch wenn sie formal noch einige Jahre länger bestand).
Mein Fazit daraus: Wir sollten die Fortschritte, die in Brüssel in Richtung auf eine Stabilitätsunion erreicht wurden, nicht gering schätzen. Sie können wenigstens vorübergehend zu einer Stabilisierung der Verhältnisse führen. Langfristig entscheidend für die Überwindung der Eurokrise ist freilich, dass a) die Beschlüsse auch wirklich umgesetzt werden, dass sie b) um Wachstumsimpulse ergänzt werden und dass es c) mehr Integration gibt.
Für den Anleger
Beobachten Sie genau, was die einzelnen Staaten auf diesen Gebieten in den nächsten Monaten tun. Bis die juristischen Grundlagen für das neue Gebäude gelegt sind, wird es noch viele Stolpersteine und Irritationen für die Märkte geben. Bedenken Sie beispielsweise, dass der Lissabon-Vertrag wegen Großbritanniens Veto um 325 einzelne bilaterale Verträge ergänzt werden muss. Es dauert, also selbst bei optimistischen Annahmen noch einige Zeit, bis der Euro aus dem Gröbsten heraus ist.
Anmerkungen oder Anregungen? Martin Hüfner freut sich auf den Dialog mit Ihnen: redaktion@deutsche-boerse.com.
© 15. Dezember 2011/Martin Hüfner
Martin W. Hüfner ist Chief Economist bei Assenagon Asset Management S.A. Er war viele Jahre Chefvolkswirt beziehungsweise Senior Economist bei der HypoVereinsbank und der Deutschen Bank. In Brüssel leitete er den renommierten Wirtschafts- und Währungsausschuss der Chefvolkswirte der Europäischen Bankenvereinigung. Hüfner schreibt für große internationale Zeitungen wie die Neue Züricher Zeitung oder die Schweizer Finanz und Wirtschaft sowie für große Zeitungen in Deutschland. Er ist Autor mehrerer Bücher, u. a. 'Europa - Die Macht von Morgen' und 'Comeback für Deutschland'.
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