von Robert Zach
Investing.com - In einigen Teilen der Welt zeigt die Inflation erste Anzeichen einer Gipfelbildung. Und die Aktienmärkte haben genau das zum Anlass genommen, um eine dynamische Rallye loszutreten. Der Grund: Sie hoffen auf ein Nachlassen der aggressiven geldpolitischen Straffung durch die Zentralbanken. Aber macht das überhaupt Sinn, wenn die Inflation trotz eines moderaten Pullbacks immer noch in der Nähe ihrer absoluten Rekordhochs liegt? Die Experten des in London ansässigen Forschungsinstituts Capital Economics haben sich genau mit dieser Frage beschäftigt. Sie meinen, die Investoren seien inzwischen viel zu optimistisch und glauben, die wichtigsten Aktienindizes würden dieses Jahr unter dem Niveau beenden, auf dem sie sich derzeit befinden.
Nachlassende Inflations- und Zinsangst stützt Aktien
Die rückläufigen Inflationsraten haben den Aktienmärkten in letzter Zeit wieder etwas Leben eingehaucht. So notiert der S&P 500 derzeit rund 15 Prozent über seinem Juni-Tief. Auch der Nasdaq 100 (+19,3 Prozent) und der Dow Jones (+11 Prozent) konnten sich kräftig erholen. International sieht es ähnlich aus: Der MSCI World (ETR:X010) ohne die USA hat sich von seinen Jahrestiefstständen bereits um mehr als 10 Prozent erholt.
Laut Capital Economics geht dies zum Teil auf das wachsende Vertrauen in die Erwartung einer baldigen Rücknahme der in den letzten Monaten vorgenommenen geldpolitischen Straffung zurück. Zwar würden viele Marktteilnehmer immer noch mehrere kurzfristige Zinserhöhungen diskontieren, doch erwarten sie gleichzeitig auch, dass diese recht zeitig wieder zurückgenommen werden. Der US-Verbraucherpreisindex per Berichtsmonat Juli, der Anzeichen für einen nachlassenden Inflationsdruck enthielt, hat diese Sichtweise unter den US-Investoren gestützt. Aber auch in mehreren anderen Ländern würden die Anleger mit einer raschen Abkehr von der straffen Geldpolitik rechnen, so die Experten des Analysehauses.
Zu den Ausnahmen in den Industrieländern gehören die Eurozone und Japan. Dies sei aber auch darauf zurückzuführen, dass die Geldpolitik in diesen Ländern nicht allzu sehr gestrafft werden dürfte.
Eine rasche geldpolitische Kehrtwende könne in mehrfacher Hinsicht gut für Aktien sein, schreiben die Experten. Zum einen begrenzt ein solches Manöver - wenn es im Voraus antizipiert wird - den Anstieg der langfristigen Renditen, selbst wenn die kurzfristigen Zinsen steigen, was für die Diskontsätze am Aktienmarkt noch wichtiger sein dürfte. Außerdem könnte dies den Schaden, den die straffe Geldpolitik der Wirtschaft - und damit den Unternehmensgewinnen - zufügt, abmildern.
Drei Risiken
Dabei sehen die Spezialisten von Capital Economics jedoch drei wesentliche Risiken für diese Sichtweise. Erstens könnte sich eine geldpolitische Lockerung erst sehr viel später einstellen, was bedeuten würde, dass sich die beiden oben beschriebenen Rückenwinde für den Aktienmarkt in Gegenwind umschlagen würden. Ein nicht von der Hand zu weisender Grund für eine solche Verzögerung wäre, wenn der zugrundeliegende Inflationsdruck nicht so schnell nachlässt, wie die Anleger derzeit erwarten.
Aber selbst wenn sich der Preisdruck merklich abschwächt, senken die Zentralbanken ihre Zinsen möglicherweise nicht so schnell wie von den Marktteilnehmern derzeit erhofft wird. Denn in den meisten Fällen preisen die Investoren eine geldpolitische Wende bereist sehr früh im nächsten Jahr ein und das, obwohl die Inflation - selbst wenn der Druck jetzt nachlassen sollte - zu diesem Zeitpunkt noch immer weit über den jeweiligen Zielen der Zentralbanken liegen dürfte. Die Notenbanken ziehen es unter Umständen vor so lange zu warten, bis sie die Teuerung eindeutig unter Kontrolle haben. Dies liegt entweder daran, dass sie über mögliche Zweitrundeneffekte einer hohen Inflation besorgt sind, oder daran, dass sie derzeit weniger Vertrauen in ihre eigenen Prognosen haben, nachdem sie von der galoppierenden Inflation überrascht wurden. Mit anderen Worten: Selbst wenn die Anleger mit der Inflationsentwicklung richtig liegen, könnten sie sich in Bezug auf die Reaktionsfunktionen der Zentralbanker irren.
Zum anderen könnte die Trendwende zwar so schnell wie erwartet erfolgen, aber eben aus einem anderen Grund, nämlich weil sich die Wirtschaft zügiger verlangsamt, als die Investoren derzeit ahnen. Das erwartet Capital Economics zum Beispiel in Kanada, Australien und Neuseeland, wo die Auswirkungen der Straffung der Geldpolitik auf die Immobilienmärkte die hiesigen Zentralbanken zu raschen Kurswechseln zwingen werden, wenn die Wirtschaft merklich abkühlt. Und auch anderswo gibt es zweifellos erhebliche Abwärtsrisiken für das Wachstum. Unter diesen Umständen könnten die Unternehmensgewinne stärker unter Druck geraten, als derzeit unterstellt wird. Und in der Vergangenheit fielen Zeiten mit stark nachlassendem Wachstum in der Regel mit einem Anstieg der Risikoprämien zusammen, wodurch die Aktienbewertungen trotz der möglichen Unterstützung durch eine Lockerung der Geldpolitik gefallen sind.
Und zu guter Letzt, selbst wenn die Zinsen letztendlich wie erwartet abgesenkt werden, könnten die Zentralbanken in der Zwischenzeit Maßnahmen ergreifen, um die finanziellen Bedingungen straff zu halten. Dies könne laut Capital Economics geschehen, indem sie kurzfristig die Zinsen stärker anheben als derzeit von den Anlegern erwartet, die Bilanzreduzierung beschleunigen oder aber versuchen, die langfristigen Renditen in die Höhe zu treiben.
Tatsächlich gibt es bereits erste Anzeichen dafür, dass sich die Notenbanker (insbesondere in den USA) mit der jüngsten Lockerung der finanziellen Bedingungen etwas unwohl fühlen. Das erklärt auch, warum mehrere Fed-Mitglieder in letzter Zeit öffentlich bekräftigt haben, dass sie an weiteren kräftigen Zinsanhebungen festhalten und die Inflation nach unten bringen wollen. Trotz einiger früher erfreulicher Anzeichen glauben die Notenbanker wohl, dass es noch eine Weile dauern wird, bis die Inflation auf ein Niveau sinkt, mit dem sie sich wohlfühlen würden.
So gehts weiter
Alles in allem spiegelt die aktuelle Markteinschätzung wohl die Sichtweise wider, dass die Inflation zügig zurückgehen wird, ohne dass die straffe Geldpolitik der Wirtschaft zu sehr schadet, was es den Zentralbanken ermöglichen würde, schnell zu einer neutralen Haltung zurückzukehren. Das erscheint den Experten von Capital Economics aber recht optimistisch. Sie erwarten eine "holprige Fahrt" für den Aktienmarkt, bis die Inflation in den wichtigsten Industrieländern wieder unter Kontrolle ist. Für den Rest des Jahres sehen die Analysten daher eine Fortsetzung der Berg- und Talfahrt der wichtigsten Börsenbarometer und einen Jahresschlusskurs unter dem aktuellen Niveau. Erst 2023 dürfte sich das Blatt dann wieder zugunsten der Aktien-Bullen wenden.