- von Holger Hansen
Berlin (Reuters) - Wolfgang Schäuble ist berüchtigt für seine scharfzüngigen Sticheleien.
In der letzten Bundestagsdebatte vor der Wahl am 24. September richtet sich der Finanzminister an die "liebe Frau Nahles", mit der er "vier Jahre da nett nebeneinander" auf der Regierungsbank gesessen habe: "Der Wettbewerb in Ihrer Partei um die künftige Führungsposition muss schon sehr heftig sein, wenn ich Ihre Rede richtig verstanden habe." Der CDU-Politiker hat insoweit Recht, als dass Arbeitsministerin Andrea Nahles in der SPD nach der Bundestagswahl eine entscheidende Rolle spielen dürfte, wie sich die Sozialdemokraten in der Opposition oder als nochmaliger Junior-Partner der Union aufstellen werden - als Fraktionschefin oder auch als Ministerin. Den Parteivorsitz werde dem Kanzlerkandidaten Martin Schulz vorerst niemand streitig machen, heißt es in der SPD - sofern das Wahlergebnis die 23,0 Prozent aus dem Jahr 2009 nicht unterschreite.
NAHLES ALS FRAKTIONSCHEFIN IN DER OPPOSITION?
"In der SPD wird es eine sehr lebhafte Debatte geben, schon am Wahlabend", sagt ein Spitzengenosse voraus. Andere erwarten keine schnellen Entscheidungen. Es werde "keine handstreichartigen Selbstausrufungen" wie 2009 geben, als sich der damalige SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier noch am Wahlabend zum Fraktionschef erklärte. "Alle Überlegungen zum Personal sind Spekulationen", sagt ein SPD-Stratege. "Jeder Prozentpunkt mehr oder weniger kann die Dinge verändern."
Nach Lage der Umfragen kann die SPD nicht davon ausgehen, dass sie den Regierungschef stellen wird. Sollte es am Wahlabend für eine Koalition aus CDU/CSU und FDP reichen, dürfte der Gang in die Opposition vorgezeichnet sein. Alles laufe dann auf Nahles als neue Fraktionsvorsitzende hinaus, heißt es an verschiedenen Stellen der SPD. Die flammende Rede der 47-Jährigen im Bundestag am Dienstag wurde auch in den eigenen Reihen als Bewerbungsrede verstanden. In der Parteiführung gibt es aber auch Stimmen, die meinen, in der Opposition müsste Schulz Partei- und Fraktionsvorsitz in seinen Händen vereinen. Die Frauen pochen aber darauf, eine Spitzenposition zu besetzen.
Für den Parteivorsitz werden in der SPD mehrere Namen gehandelt, sollte Schulz den Rückzug antreten. "Natürlich trete ich auf dem Parteitag im Dezember wieder als Parteivorsitzender an", hat der 61-Jährige angekündigt. Schulz kann zwar auf Rückhalt setzen: Ihm wird zugutegehalten, dass die Partei so geschlossen dasteht wie lange nicht. Der Rheinländer setzt auf einen Führungsstil, in dem er sich abstimmt und Konflikte entschärft. Einer aus der SPD-Führungsriege führt ins Feld: "Es gibt eine große emotionale Verbundenheit der Mitglieder mit ihrem Vorsitzenden."
Doch stets wird eingeschränkt, dass es beim Wahlergebnis womöglich eine Schmerzgrenze gebe, wenn die SPD die 25,7 Prozent aus dem Jahr 2013 zu stark unterschreite. Dann könnte sich auch die Frage nach dem Parteivorsitz stellen. "Wer das macht, sollte schon mal eine Wahl gewonnen haben", heißt es aus dem Umfeld einer der SPD-Protagonisten. Als Namen fallen dann die in der Partei beliebte rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer - und auch der Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz, der nach den G20-Krawallen angeschlagen schien. "Ich bin Bürgermeister dieser Stadt, und ich werde das bleiben", gab der 59-Jährige jüngst in der "Welt am Sonntag" zu Protokoll. Das schließt ein Ministeramt aus, aber nicht den Parteivorsitz.
GROSSE KOALITION - ODER OPPOSITION MIT LINKEN UND AFD?
Trotz aller Absagen an ein neues Regierungsbündnis mit CDU und CSU: In der SPD-Führungsriege ist die Auffassung verbreitet, dass eine große Koalition einer gemeinsamen Opposition mit AfD und der Linken vorzuziehen wäre. Das Kalkül lautet: Am Wahlabend werde es rechnerisch für ein Regierungsbündnis von CDU, CSU, FDP und Grünen reichen - doch nach Sondierungen werde sich erweisen, dass eine Jamaika-Koalition nicht zustande komme. Dann sähen Sozialdemokraten eine Chance, den Widerwillen an der Parteibasis gegen eine erneute große Koalition zu überwinden.
Parteichef Schulz hat diese Linie selbst deutlich gemacht, obwohl er im TV-Duell vor Millionenpublikum einer Antwort mit der Feststellung auswich: "Ich strebe die Kanzlerschaft der Bundesrepublik Deutschland an." Bei einem Wahlkampfauftritt vor Kleingärtnern dagegen erläuterte Schulz vor einem Monat: Merkel werde über ein Bündnis mit FDP und Grünen reden, was vielleicht nicht gelinge. "Dann bietet sie uns große Koalition an, und ich sage Nein. Dann gibt es Neuwahlen." Die Union werde sich als Stabilitätsanker darstellen, während sich die SPD verweigere, gibt er zu bedenken. Schulz schließt daher eine große Koalition nicht aus: "Ich kann Dir das nicht versprechen", sagt Schulz einem Genossen auf der Bierbank gegenüber.[nL5N1KV3MY]
OPPERMANN SIEHT SICH WEITER ALS FRAKTIONSCHEF
In der SPD wird erwartet, dass Schulz vor der Bundestagswahl die Forderungen der Sozialdemokraten noch einmal zuspitzt auf drei bis fünf Kernthemen, die von der SPD zur Bedingung für jede Koalition gemacht würden - dazu dürften kostenfreie Bildung sowie die Sicherung des Rentenniveaus gehören. Wenn ein Koalitionsvertrag die Umsetzung der Kernforderungen beinhalte, sei eine Zustimmung der SPD-Mitglieder nicht ausgeschlossen.
Das Personaltableau der SPD dürfte sich auch in einer großen Koalition schwierig gestalten. Zwar gäbe es neben Partei- und Fraktionsvorsitz weitere Posten zu verteilen. Aber es gäbe auch mehr Ministeraspiranten als bisher. Derzeit stellt die SPD sechs Bundesminister, die Union die Kanzlerin und neun Minister. Die Postenzahl sechs zu zehn entspricht den Wahlergebnissen von 25,7 und 41,5 Prozent von SPD und Union. Je nachdem wie sich dieses Kräfteverhältnis am 24. September ändert, könnte die SPD mehr oder weniger Ministerämter beanspruchen.
Ein mögliches Szenario wäre, dass Fraktions- und Parteivorsitz unverändert blieben. Bei Schulz wird in der SPD davon ausgegangen, dass er Mitglied der Bundesregierung würde und eine Präferenz für das Außenministerium hätte. Mit diesem Posten hat sich aber auch Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel angefreundet. Vielfach wird in der SPD betont, dass das Finanzministerium ein wichtiges Ressort wäre - das aber wohl nur unter Preisgabe des Außenministeriums erreichbar wäre, wenn die SPD bei der Wahl nicht zulegte. Schulz habe vor vier Jahren Gabriel zur Übernahme des Finanz- statt des Wirtschaftsministeriums geraten, heißt es aus der SPD. Dort werde die Europapolitik gemacht. Welche Prioritäten Schulz nun setzen würde, ist offen.
Nahles hat mehrfach erklärt, dass sie am liebsten Arbeitsministerin bleiben wolle. Dann könnte sich Fraktionschef Thomas Oppermann womöglich Hoffnungen machen, dieses Amt auch in der neuen Wahlperiode auszuüben. "Wir werden nach der Wahl überlegen, wie wir uns aufstellen", sagte er Reuters."Ich war immer gerne Fraktionsvorsitzender und würde es auch gerne bleiben." Doch in der SPD gibt es Zweifel an seinen Chancen angesichts der Frauen-Forderung, eine Spitzenposition zu besetzen. Die Wahl des Fraktionschefs steht bereits am Dienstag oder Mittwoch nach der Bundestagswahl an.
Die Fraktionsvorsitzendenwahl könnte jedoch nur eine vorläufige Entscheidung bringen: Steinmeier wurde 2013 zunächst als Fraktionschef wiedergewählt, um nach den Koalitionsverhandlungen das Außenministerium zu übernehmen. Oppermann kam an die Faktionsspitze, auf Drängen von Gabriel - obwohl Oppermann lieber Innenminister geworden wäre.
Einfluss nehmen werden auch die Ministerpräsidentinnen von Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz, Manuela Schwesig und Dreyer. "Sie werden beide eine große Rolle spielen", sagt ein Mitglied der SPD-Führung. Von der Nachfolgerin Schwesigs als Familienministerin, Katarina Barley, heißt es, sie könne eine führende Rolle in der Fraktion einnehmen, wenn sie nicht Ministerin bleibe. In einer großen Koalition dürfte auch Hubertus Heil, der als Generalsekretär die Feuerwehr spielt und den Wahlkampf managt, ein Ministeramt beanspruchen.
Bis zum Wahltag will die SPD aber nicht aufgeben. "Wir kämpfen in den verbleibenden zweieinhalb Wochen dafür, 30 Prozent zu bekommen", sagt Oppermann. In der SPD-Spitze wird darauf verwiesen, dass Schulz beim TV-Duell vor allem bei den unentschlossenen Wählern gepunktet habe. Und auf die komme es, damit die SPD besser als in Umfragen abschneide.