Macht die EU-Kommission Ernst und setzt die europäischen Stabilitätskriterien durch? Tatsächlich eröffnet sie Defizitverfahren gegen sieben Länder, darunter Frankreich. Aber wie ernst kann ihr Ernst wirklich sein? Unabhängig davon muss Europa endlich die Schuldenfrage neu diskutieren.
Es waren einmal die europäischen Stabilitätskriterien
Um der Gemeinschaftswährung beizutreten und um nach Clubeintritt keine Sanktionen zu riskieren, darf das jährliche Haushaltsdefizit maximal drei Prozent und der Schuldenstand maximal 60 Prozent jeweils bezogen auf die Wirtschaftsleistung (BIP) betragen. Die Eintrittshürde war zu Beginn der Währungsunion durch kreative Buchführung relativ einfach zu schaffen. Und wer einmal drin war, konnte nicht mehr raus. Damit hat Europa auf die wirksamste Sanktion von vornherein verzichtet.
Deutlich schwieriger ist es, auch die laufenden Staatshaushalte stabilitätsgerecht aufzustellen. Frankreich hatte aber vorgebeugt und darauf gepocht, dass auch jene Länder beitreten, die Stabilität nicht unbedingt erfunden haben. So konnten die stabilitätsaffinen Euro-Nordländer gegenüber Euro-Süd nicht die Oberhand gewinnen.
Tatsächlich wurden die Kriterien flexibilisiert. Zugegeben, anfänglich waren sie zu starr, da Pandemien oder ein Krieg in Europa mit Konjunktur- und Energiekrisen niemand auf dem Radarschirm hatte. Doch trug auch dieser Pragmatismus zur „Haushaltsentdisziplinierung“ bei. Außerordentliche Gründe finden sich immer.
1000 mal verwarnt, 1000 mal ist nichts passiert
Und dennoch gab es bislang knapp 40 Defizitverfahren gegen Euro-Länder. Brüssel kann ja nicht einfach die Hände in den Schoß legen. Immerhin gehören die Stabilitätskriterien zu den 10 Geboten Europas. Sie blieben aber immer ziemlich folgenlos. Auch Deutschland als früherer Gralshüter der Stabilitätstugend hat für seine Haushaltssünden Anfang des Jahrtausends keine Buße tun müssen.
Jetzt wurden wieder Verfahren gegen sieben Mitgliedsländer eingeleitet. Eigentlich müssten es sogar 12 sein. Aber bei fünfen hat man fünf gerade sein lassen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Enfant terrible ist mal wieder Frankreich. La Grande Nation ist groß vor allem beim Schuldenstand von 112 Prozent gemessen zum BIP und einem Budgetdefizit von 5,5 Prozent.
Ist Besserung in Sicht? Knallharte Wirtschaftsreformen und Sparmaßnahmen wären mehr als überfällig, sind aber in einem Land, dessen Bürger das Revoluzzer-Gen schon mit der Muttermilch aufnehmen, nur schwer umzusetzen. Vor der vorgezogenen Parlamentswahl propagieren populistische Parteien jetzt die Stabilitätstugend, nachdem sie im Europawahlkampf noch weitere Sozialleistungen versprochen hatten, die Frankreich jährlich 100 Mrd. Euro kosten würden. Da macht jemand auf seriös. Dabei hätte schon die Reform des Rentensystems fast die zweite Französische Revolution ausgelöst.
Die Defizitverfahren gegen Frankreich und andere Länder sollen Warnschüsse an Politiker sein, endlich dem Schulden-Schlendrian abzuschwören. Doch kann man französische Politiker nicht zum Sparen zwingen. Sie fürchten die Rache der Wähler bei der Präsidentenwahl 2027. Zudem ist das Land systemrelevant für die Handlungsfähigkeit von Eurozone und EU. Wird sich also die EU mit Frankreich anlegen? Verwenden Pariser Feinschmeckerköche Margarine statt Butter? Ohnehin ist ein Defizitverfahren ein Abnutzungsprozess. Ähnlich wie bei der stillen Post werden harte Sanktionen immer mehr zu harmlosen Mahnungen.
Am Ende wird Frankreich weiter für seinen Sozialstaat straffrei Schulden machen. Ähnlich ist Brüssel mit Bella Italia umgegangen, auch systemrelevant. Als Gründe wird immer gerne auf die besonderen strukturellen Probleme Italiens verwiesen. Könnten diese diverse italienische Regierungen verursacht haben?
Leider sendet der mit Schleifung der Stabilitätskriterien erkaufte europäische Frieden fatale Signale aus. Wenn die anderen Stabilitätskriterien schleifen, dürfen wir das doch auch. So wird der Druck, sich mit auch schmerzhaften Maßnahmen für die wirtschaftliche Zukunft fit zu machen, immer kleiner.
Wer hätte es gedacht? Griechenland ist der Reformmotor Europas
Griechenland hat man damals nicht geschont, im Gegenteil. Dem Land fehlte das politische und wirtschaftliche Gewicht, um Brüssel drohen zu können. Gemäß dem „Vogel friss oder stirb“-Prinzip gehen die Griechen also den harten Reform-Weg. U.a. wollen sie wieder die Sechstagewoche einführen und hauchen dem Leistungsprinzip wieder Leben ein. „She works hard for the money“ von Donna Summer scheint das neue Motto der Athener Wirtschaftspolitik zu.
Bei uns dagegen wird immer weniger Arbeit bei vollem Lohnausgleich gefordert. Das fehlende Geld soll auch mit neuen Schulden finanziert werden. Und wer soll es bezahlen? Wenn die EZB zum willenlosen Staatsfinanzierer wird, schlägt die Inflation und damit die Verarmung erbarmungslos zu.
Gute Schulden, schlechte Schulden
Grundsätzlich muss die europäische Schuldenpraxis überdacht werden. Denn ohne Schulden geht es nicht. Wie sonst wollen wir bitte bei der globalen Neujustierung von Macht und Wohlstand eine Rolle spielen? Auch Amerika, China und Indien verbessern ihre Standortbedingungen und Innovationskraft auf Pump.
An dieser Stelle ist es aber wichtig, die Unterscheidung zwischen gut und schlecht zu treffen. Verschuldung, mit der wie bisher nur Verständnis- und Gefälligkeitsökonomie betrieben wird, muss hart geahndet werden. Gute Schulden sollten gewährt werden, wenn ein Land wie Griechenland sich konsequent bemüht, seine Wettbewerbsfähigkeit zum Wohle von Wachstum, Arbeitsplätzen und Perspektiven zu stärken. Nachhilfe für Schüler ist auch nicht umsonst, bringt aber längerfristigen Erfolg. Schlecht sind auch Schulden, die als Subventionen nur der ideologischen, ja planwirtschaftlichen Wirtschaftslenkung und politischen Beglückung zugutekommen. Diese unproduktiven Schulden sind übrigens unsozial, da sie von denjenigen als Steuern getilgt werden müssen, die sie nicht verursacht haben. In diesem Zusammenhang müssen auch bestehende Staatsausgaben vom Gärtner behandelt werden. Diverse Wucherungen sind zu beseitigen.
Ob europäische Politiker dazu bereit sind? Aber haben sie eine andere Wahl, wenn sie an die Zukunft Europas denken?
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