Schlafwandeln die Märkte in eine beispiellose Metallkrise? Händler sorgen sich zunehmend um die drastisch gesunkenen Lagerbestände der London Metal Exchange. Die Vorräte der Börse sind teils so knapp wie nie im 21. Jahrhundert.
An den Märkten machen sich Sorgen um die niedrigen Lagerbestände der London Metal Exchange (LME) bereit. Wie unter anderem der Branchendienst Fastmarkets berichtet, fallen die Bestände bei vielen Industriemetallen deutlich. So beliefen sich die Gesamtbestände der Metallbörse am 17. August auf 579.979 t. Dies entspricht einem Rückgang um 48 % seit Beginn des Jahres (1.380.100 t).
Der Rückgang der Bestände lässt sich über alle Metalle hinweg beobachten, wenngleich auch in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Besonders stark fiel der Rückgang etwa bei Zink aus. Doch für alle Basismetalle lassen sich Bestände auf mehrjährigen Tiefs ausmachen. In einigen Märkten liegen die Vorräte sogar so niedrig wie nie zuvor im 21 Jahrhundert.
Droht im September eine Panik?
Fastmarkets zitiert einen Händler. Dieser sorgt sich darum, dass einige Marktteilnehmer derzeit „schlafwandelten“. Es könne sein, dass es im September zu einer Panik komme, wenn die Märkte nach dem Sommer wieder zu normaler Aktivität zurückkehrten.
Rückgänge lassen sich auch bei der LME Lagerfläche feststellen. Neuesten Daten zufolge gab es an allen Standorten zusammen im Juni 3.688.830 m² Lagerfläche. Die drei wichtigsten Standorte sind dabei Rotterdam, Busan und Port Klang.
Noch im Juni 2021 gab es 4.348.441 m² Lagerkapazitäten bei der LME. Im Juni 2015 lag die Kapazität sogar bei 5.213.177 m² – und damit rund 30 % höher als heute. Besonders stark fällt der Rückgang in den USA aus. Hier gab es im Juni insgesamt noch 648.274 m² Lagerfläche – gegenüber 1.678.330 m² im Juni 2015.
Kupfer aus Russland bleibt im System
Die Lagerbestände könnten sogar noch geringer ausfallen als auf dem Papier. Der Grund: Viele Kunden akzeptieren derzeit Metalle aus Russland nicht – dies gilt etwa für Kupfer. Fastmarkets berichtet unter Berufung auf Händler, dass einige Lager in Südostasien inklusive Singapur mittlerweile nur noch Kupferkathoden aus russischer Produktion lagerten. Andere Schätzungen gehen davon aus, dass mehr als die Hälfte des Kupfers aus Russland stammen könnten.
Können Kupfernachfrager dieses Material aus rechtlichen oder politischen Gründen nicht akzeptieren, fällt der Markt noch sehr viel enger aus als es die Zahlen derzeit darlegen. Die LME veröffentlicht Lagerbestände nach Herkunftsland nur einmal jährlich. Am 31. März waren rund 10 % der Basismetalle osteuropäischen Ursprungs.
Aluminiumbestände drastisch gesunken
Neben Zink und Kupfer bereitet auch Aluminium Sorgen. Aktuell belaufen sich die Lagerbestände auf 276.875 t. Im August 2021 lagerten noch 1,3 Millionen t in den LME lagern, 2016 sogar noch 2,2 Millionen t.
Ein Händler betont gegenüber Fastmarkets, die Vorräte seien sehr kritisch, wenn „man bedenke, dass die LME von vielen als Markt bzw. Beschaffungsquelle der letzten Instanz betrachtet werde“. In Shanghai fiel der Aluminiumbestand der LME am 18. August sogar auf ein neues Rekordtief.
Der Markt für die Lagerhaltung ändert sich. In den 2010er Jahren, als viele Metalle im Überfluss vorhanden waren, hatten viele Großunternehmen in Lagerhaltung investiert und sich dem LME Netzwerk angeschlossen.
Dazu gehörten unter anderem Glencore (LON:GLEN) (WKN: A1JAGV, ISIN: JE00B4T3BW64), J.P. Morgan, Goldman Sachs (NYSE:GS), Mercuria, Trafigura und viele weitere Akteure. 2014 machten Lagerbestände, die durch Banken und Handelshäuser betrieben wurden, 62 % des LME Netzwerks aus. Inzwischen ist dieser Anteil auf 6 % gesunken.
2014 stieg Goldman Sachs aus dem Geschäft aus – weitere Akteure folgen. Zuletzt war Glencore durch den Verkauf seines Lagergeschäfts aus diesem Bereich ausgestiegen. Verkauft wurde die Sparte an Infinity Logistics and Transport. Der Verkauf steht beispielhaft für einen Trend: Die Lagerhaltung bewegt sich von den Handelsabteilungen zu Spezialisten für Lagerhaltung und Logistik zurück.
Knappe Bestände nicht eingepreist?
Viele Metallmärkte haben sich in den vergangenen Monaten deutlich entspannt. Die Preise sind oft spürbar gesunken – und auch die im Frühjahr zu beobachtende Backwardation Situation hat sich in vielen Märkten aufgelöst. Diese Entspannungshaltung des Marktes erscheint vor dem Hintergrund der historisch niedrigen Lagerbestände durchaus fragwürdig.