Ich möchte Ihnen heute anhand einer ausführlichen Schritt-für-Schritt-Chartanalyse zeigen, wie man anhand von bestimmten Chartmustern eine Einschätzung des Marktes vornehmen und mögliche Szenarien für die zukünftige Kursentwicklung ableiten kann. Los geht’s:
Vor rund zwei Monaten, am 10. Juni, habe ich im kostenlosen Newsletter „Börse-Intern“ zuletzt den S&P 500 analysiert – anhand des folgenden Chart (aus dem Börsenbrief „Target-Trend-Spezial“):
Einen Tag zuvor hatte die Europäische Zentralbank (EZB) für Juli die erste Leitzinsanhebung angekündigt (siehe „EZB hat die Markterwartungen sogar leicht übererfüllt“).
Auf diese Mitteilung reagierten die Aktienmärkte offensichtlich mehrheitlich sehr negativ. Der S&P 500 brach aus seiner kurzfristigen Seitwärtsbewegung an der Rechteckgrenze bei 4.150 Punkten dynamisch nach unten aus und sendete damit klar bearishe Signale. Zumal er zugleich eine (unregelmäßige) ABC-Korrektur exakt am zuvor prognostizierten Niveau beendete (grüne Linie im Chart) und die vorangegangene Abwärtsbewegung wie erwartet wieder aufnahm. Neue Korrekturtiefs waren dadurch zu befürchten.
Aus -20 % wurden -25 %
Blickt man nun auf den aktuellen Chart des S&P 500, so erkennt man, dass sich die Befürchtungen bewahrheitet haben und es tatsächlich zu neuen Korrekturtiefs gekommen ist. Aus einer Korrektur von mehr als 20 % wurde eine von fast 25 %.
Die Charttechnik hat also hervorragend funktioniert. Denn man war vor weitergehenden Kursverlusten bis hin zu neuen Korrekturtiefs gewarnt. Danach wurde es allerdings kniffelig.
Problem: Überschneidung der Wellen
Nach zwei fast gleichstarken Korrekturbewegungen (rote Rechtecke), bei der die zweite etwas größer ausfiel, deutete das neue Korrekturtief auf eine dritte Abwärtswelle hin. Das war ganz im Sinne der Elliott-Wellen-Theorie.
Denn demnach zeichnet sich ein Trend durch drei (Impuls-)Wellen (1, 3 und 5) aus, die von zwei Gegenbewegungen (Wellen 2 und 4) unterbrochen werden (siehe auch folgender Chart). Die zweite Impulswelle (oder auch Antriebswelle, Welle 3) ist dabei meist die längste und nie die kürzeste. Bis hierher passte also alles noch recht gut zusammen.
Aber: In einer impulsiven Bewegung dürfen sich die Wellen 1 und 4 nicht überschneiden. Und dies war im S&P 500 der Fall (siehe rote Ellipse).
Für dieses Problem gab es eigentlich nur zwei Lösungen: Entweder die Wellen waren falsch gezählt oder es handelte sich nicht um einen impulsiven Abwärtstrend, sondern um ein korrektives Muster. Letzteres war für mich durchaus möglich, denn ich ging für die Aktienmärkte nicht von einer generellen Trendwende, sondern nur von einer größeren Korrektur aus.
Wie weit läuft die neue Abwärtswelle?
Jedenfalls stellte sich mit dem Korrekturtief die viel wichtigere Frage, wie weit die neue Abwärtswelle nach unten führen würde. Dabei war zu erwarten, dass auch diese (Impuls-)Welle wieder 5-gliedrig ausfallen würde. Und mit Erreichen der Mittellinie bei 3.670 Zählern war dies bereits der Fall.
Allerdings wirkten diese untergeordneten Wellen im Vergleich zu den vorangegangenen relativ klein, abgesehen von der Welle 3. Es bestand daher die Möglichkeit, dass es sich bei diesen fünf untergeordneten Wellen zusammengenommen erst um die Welle 1 der dritten Korrekturwelle handelte.
Doch es galt auch zu bedenken, dass wir es bei dieser dritten Impulswelle mit der Welle 5 zu tun hatten. Und diese fällt meist kleiner aus als die Welle 3.
Zudem passte die sehr dynamische Abwärtsbewegung zu einem kleinen Sell-Off, mit dem häufig ein Abwärtstrend endet. Es galt also aufgrund dieser Unsicherheit zunächst abzuwarten, was als Nächstes passiert.
Abwarten, was als Nächstes passiert!
Im Börsenbrief „Target-Trend-Spezial“ riet ich zu diesem Zeitpunkt übrigens genau dazu. Zuvor waren wir bei 4.575 Punkten in einen Short-Trade eingestiegen, der gemäß meinem Hinweis entweder bei 3.900 Punkten per direkter Gewinnmitnahme oder im Rahmen der Welle C knapp oberhalb der Rechteckgrenze bei 4.150 Punkten beendet worden sein sollte. In beiden Fällen brachte dieser Short-Trade einen schönen Gewinn ein. Und am 15. Juni, als der S&P 500 im Rahmen der neuen dynamischen Abwärtswelle auf ein neues Korrekturtief und gerade unter die Rechteckgrenze bei 3.766 Punkten gerutscht war, schrieb ich den Lesern:
„Nach dem Gewinn aus dem letzten Short-Trade würde ich die weitere Entwicklung zunächst noch etwas beobachten. Aktuell sehe ich keine Formation, auf die man traden könnte. Der Index ist zwar klar bearish, so dass sich ein Short-Trade anbietet, die Kurse sind aber kurzfristig bereits stark überverkauft.“
Erneute Gegenbewegung oder Ende der Korrektur?
Es folgte eine Gegenbewegung. Diese war nach dem dynamischen Kursrutsch zu erwarten und absehbar, weshalb der Trading-Hinweis im Target-Trend-Spezial genau richtig war. Sie lief zunächst bis zur Rechteckgrenze bei 3.958 Punkten, wo es dann zu zwei Rücksetzern kam, mit denen tiefere Hochs und Tiefs markiert wurden (siehe roter Abwärtstrendkanal im folgenden Chart).
Das deutete auf eine mögliche Wiederaufnahme und Fortsetzung der neuen Abwärtswelle hin. Das Chartbild war damit klar bearish. Es zeichnete sich ab, dass der vorherige 5-gliedrige Abwärtsimpuls womöglich tatsächlich nur die Welle 1 der Welle 5 gewesen ist.
Doch das tiefere Tief stellte sich als Bärenfalle heraus. Denn der S&P 500 drehte wieder nach oben und brach dynamisch aus dem moderaten Abwärtstrendkanal nach oben aus, womit sich dieser als trendbestätigende Konsolidierung in einer neuen Aufwärtsbewegung herausstellte. Da auch die noch junge Tendenz tieferer Hochs endete und auch dadurch die Kurserholung wieder aufgenommen wurde, war das kurzfristige Chartbild plötzlich bullish.
Charttechnisch blieb es aber kniffelig. Denn wie im Chart oben zu sehen, stellen sich Gegenbewegungen häufig als ABC-Formationen dar. Und so war dies auch jetzt wieder möglich:
Im Target-Trend-Spezial blieb ich daher bis Ende Juli bei meinem Rat, die Kursentwicklung noch weiter zu beobachten. In der Analyse vom 15. Juni hatte ich den Lesern allerdings auch geschrieben, dass Entwarnung angesagt ist, „wenn der S&P 500 in den Bereich der kurzfristigen Seitwärtskonsolidierung zurückkehren kann, die ab dem 27. Mai oberhalb der Mittellinie bei 4.054 Punkten bzw. an der Rechteckgrenze bei 4.150 Zählern stattgefunden hat“. Und dieses Niveau wurde am 29. Juli erreicht. Damit wurde ein weiteres bullishes Signal gesendet.
Dies auch vor dem Hintergrund, dass zu diesem Zeitpunkt die vermeintliche Welle c deutlich länger war als die Welle a. Auch dadurch nahm die Wahrscheinlichkeit für das bearishe einer erneuten ABC-Bewegung deutlich ab. Ich präsentierte den Target-Trend-Spezial-Lesern daher ein neues bullishes Szenario für den S&P 500.
Und bislang setzt sich die Kurserholung fort.
Stellt sich also nun die Frage, ob man die abwartende Haltung langsam ablegen kann.
Kann man sich nun im S&P 500 neu positionieren?
Ich beantworte diese Frage für mich persönlich mit einem „Nein“. Und das aus folgenden Gründen:
Long-Positionen erscheinen aktuell risikobehaftet, weil die übergeordnete Korrektur noch nicht eindeutig beendet wurde. Das zeigt zum Beispiel die dicke rote Abwärtstrendlinie. Zudem ist das kurzfristige Chartbild zwar klar bullish, der S&P 500 derzeit aber etwas überkauft. Ich rechne daher mit einem baldigen Rücksetzer, zum Beispiel im Rahmen der Welle 4 (dunkelgrün). Und selbst wenn es spätestens nach einem Rücksetzer wieder aufwärts geht, muss man am Ende der Welle 5 bereits wieder mit einer ABC-Korrektur rechnen. Diese könnte mit einer saisonalen Herbstkorrektur einhergehen.
Short-Positionen erscheinen mir aktuell ebenfalls zu riskant, weil zwar ein Rücksetzer zunehmend wahrscheinlich wird, aber kurzfristig keine bearishen Signale auszumachen sind. Und nach einem (kleinen) Rücksetzer kann es auch weiter aufwärts gehen. Das Potential eines Short-Trades wäre in diesem Fall begrenzt.
Erst wenn der S&P 500 unter das Hoch der Welle 1 (dunkelgrün) fällt, liegt wieder eine Überschneidung vor, die gegen den aktuellen Aufwärtsimpuls spricht und somit Short-Positionen begünstigen würde.
Fazit
Was will ich Ihnen also nun mit der heutigen Ausgabe sagen, wenn sich doch aktuell keine Trades anbieten? Das gleiche wie den Lesern des Target-Trend-Spezial, denen ich am 26. Juli geschrieben habe, dass man nicht in jedem Markt permanent aktiv sein muss, wenn das Chartbild unklar ist.
Denn es gibt vielleicht bessere Gelegenheiten in anderen Märkten. Immer wieder tun sich an der Börse irgendwo neue Chancen auf.
Der S&P 500 wechselte seit dem 10. Juni von klar bearishen zu kurzfristig klar bullishen Signalen. Ließen sich diese mit einer hohen Gewinnwahrscheinlichkeit bzw. mit einem ausreichend guten Chance-Risiko-Verhältnis handeln? Aus meiner Sicht nicht. Abwarten war daher für mich im S&P 500 die sinnvollste Strategie.
Und jetzt würde ich im S&P 500 aufgrund der Chartanalyse erst einmal einen Rücksetzer abwarten und beobachten, wo und wann dieser startet und wie dynamisch er verläuft. Bei einer schnellen Bewegung in Richtung der Welle 1 (dunkelgrün) bietet sich weiterhin kein (Long-)Trade an. Setzten die Kurse aber moderat und korrektiv zurück, im Rahmen der Welle 4 zum Beispiel in Form eines Abwärtstrendkanals bzw. einer Flagge, könnte man mit einer Long-Position auf eine Fortsetzung der Kurserholung setzen.
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg an der Börse
Ihr
Sven Weisenhaus