- von Hans-Edzard Busemann und Andreas Rinke und Sabine Siebold
Berlin (Reuters) - Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht die EU unter dem Druck der nach Europa strebenden Migranten am Scheideweg.
"Europa hat viele Herausforderungen, aber die mit der Migration könnte zu einer Schicksalsfrage für die Europäische Union werden", sagte sie am Donnerstag in einer Regierungserklärung wenige Stunden vor Beginn eines EU-Gipfeltreffens zum Umgang mit Asylbewerbern. Sie bekräftigte, bei dem zweitägigen Treffen werde es keine umfassende Lösung für eine europäische Asylpolitik geben, deren Ziel eine Verringerung der Zuwanderung sein müsse. Auf die CSU, die ihr ein Ultimatum für die Abweisung in der EU schon registrierter Flüchtlinge gestellt hat, ging sie nur indirekt ein. Vor allem Redner von AfD, FDP und Linken warfen Merkel vor, für die durch Migranten entstandenen Spannungen mit verantwortlich zu sein.
"Wir sind - das will ich ganz offen sagen - noch nicht da, wo wir sein wollen", räumte Merkel ein. "Das gemeinsame europäische Asylsystem, wie wir es eigentlich jetzt im Juli verabschieden wollten, werden wir auf dem Rat zu 28 nicht verabschieden können." Zwar sei man sich bei fünf Maßnahmen einig. Aber um zwei entscheidende Punkte werde noch gerungen. Dabei gehe es um gleiche Standards bei der Gewährung von Asyl in der EU und um eine Reform der Dublin-III-Regeln.
Diese EU-Verordnung sieht vor, dass Asylverfahren in dem EU-Land durchgeführt werden müssen, in dem der Migrant zum ersten Mal von den Behörden erfasst wird. Mittelmeeranrainer wie Italien lehnen die Regelung als ungerecht ab, da bei ihnen wegen ihrer geografischen Lage wesentlich mehr Flüchtlinge ankommen als in anderen EU-Staaten.
MERKEL WILL LÄNDERN MIT HOHEM FLÜCHTLINGSAUFKOMMEN HELFEN
Merkel signalisierte Entgegenkommen: Man könne die Länder nicht alleinlassen, in denen die Flüchtlinge ankämen. Sie skizzierte drei Aufgaben, die die EU zu lösen habe: Der Kampf gegen Schlepper, Verhandlungen mit afrikanischen Staaten über Rückführungen und eine bessere Steuerung der Sekundärmigration, also der Wanderung von Flüchtlingen von einem EU-Land zum anderen. Solange es in diesen Fragen keine Einigkeit unter allen 28 EU-Mitgliedern gibt, setzt die CDU-Chefin auf eine "Koalition der Willigen". Denkbar seien bi- oder multilaterale Abmachungen. "Sicherlich keine perfekte Lösung, aber ein Anfang für eine Steuerung und Ordnung auch der Sekundärmigration", sagte Merkel. Sie schloss einseitige Maßnahmen ebenso wie Lösungen zulasten Dritter aus.
Ohne sie beim Namen zu nennen wandte sich die Kanzlerin gegen die CSU und warnte vor nationalen Alleingängen. Viele sagten, die europäische Lösung komme nicht, da werde schon seit drei Jahren drauf gewartet, erklärte sie gemünzt auf Kritik aus der Schwesterpartei. "Das stimmt so nicht." Bundesinnenminister Horst Seehofer hat wegen der aus seiner Sicht erfolglosen Flüchtlingspolitik angekündigt, er werde die Zurückweisung aller bereits in anderen EU-Ländern registrierten Flüchtlinge an den deutschen Grenzen anweisen, sollte der EU-Gipfel nicht zu gleichwertigen Ergebnissen kommen. Aus Merkels Sicht verstößt eine derartige, einseitige Maßnahme jedoch gegen Europa-Recht.
Kommenden Sonntag wollen die Spitzen von CDU und CSU die Ergebnisse des Gipfels bewerten. Im Raum steht, dass Merkel Seehofer aus ihrem Kabinett entlässt, falls der CSU-Chef seine Ankündigung wahr macht. Sollte die CSU die große Koalition verlassen, verlöre Merkel ihre Regierungsmehrheit im Bundestag.
KANZLERIN BETONT FORTSCHRITTE IN DER ASYLPOLITIK
Man habe in der EU entgegen anderen Behauptungen seit 2015 erhebliche Fortschritte gemacht, betonte Merkel. Die Zahl der ankommenden Flüchtlinge sei drastisch gesunken - auch weil man mit Länder um die EU herum zusammengearbeitet habe. In Deutschland habe man sich auf eine Regelung zum Familiennachzug von Flüchtlingen und auf Ankerzentren für Asylbewerber verständigt. Gleichwohl gebe es noch Handlungsbedarf. So könne es nicht sein, dass sich der frühere Leibwächter von Osama bin Laden über Jahre in Deutschland aufhalte.
Die CSU zeigte sich im Bundestag in der Form konziliant, aber in der Sache unnachgiebig. "Wir begleiten das positiv, die europäischen Lösungen zu ermöglichen", sagte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Die CSU bleibe aber dabei, dass diejenigen an der Grenze zurückgewiesen werden sollten, deren Asylverfahren in einem anderen Land in Europa geführt werden müsse. Seehofer, der an der Bundestagsdebatte nicht teilnahm, hatte sich zuletzt kompromissbereit gezeigt, allerdings ohne eine Lösung aufzuzeigen. "Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir das auflösen", sagte der CSU-Chef am Mittwochabend in der ARD.
AfD-Chef Alexander Gauland warf Merkel vor, andere EU-Staaten zur Aufnahme von Flüchtlingen zu drängen. "Doch die Europäer lassen sich nicht kujonieren. Und sie sind auch nicht bereit, Ihre Buntheit, die Morde und Messerattacken und sexuelle Belästigung einschließt, in ihre Länder zu integrieren." FDP, Linke und Grüne warfen der CSU vor, den Streit über die Asylpolitik für die bayerische Landtagswahl zu instrumentalisieren.