STUTTGART (dpa-AFX) - Auf vielen Gräbern im Stuttgarter Hauptfriedhof prangen ordentlich aufgereiht die immer selben Blumen. Derzeit bestimmen Stiefmütterchen, Bellis und hie und da Goldlack den Einheitslook. Doch diese Art von Zierde dürfte keine Zukunft haben - zumindest, wenn es nach dem Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) geht. Dort, wo tausende Menschen ihre letzte Ruhestätte gefunden haben, soll brummendes und summendes Leben einkehren, erläutert Lilith Stelzner, Naturschutzreferentin des BUND Baden-Württemberg.
Dass es auch anders geht, zeigen drei insektenfreundlich gestaltete Gräber am Friedhofseingang. Dort tut sich eine Vielfalt von Insekten am Nektar einer Vielfalt von Blüten gütlich. "Insekten benötigen heimische Pflanzen wie den Gewöhnlichen Natternkopf, Glockenblumen, die Skabiosen-Flockenblume, Blut-Storchschnabel, Kriechenden Günsel oder die Gemeine Ochsenzunge", sagt Stelzner. Intensive Landwirtschaft, fehlende Hecken, wenig Gebüsch und Monokulturen erlauben dies vielerorts nicht.
Die dramatische Entwicklung der Insektenbestände zeigte 2017 die sogenannte Krefeld-Studie: Innerhalb von 25 Jahren waren rund 75 Prozent der Fluginsekten-Biomasse in bestimmten Naturschutzgebieten verschwunden. "Das hat die Menschen wachgerüttelt", sagt der Insektenexperte Peter Weißhuhn von der Naturschutzorganisation WWF. Die Kommunen hätten eine wichtige Rolle, dem entgegenzuwirken. Allein, die Mahd zu verändern und mehr als bisher stehenzulassen, nütze den Blumenwiesen und dort lebenden Insekten.
Der Naturschutzbund (Nabu) widmet den Sechsbeinern in diesem Jahr viel Aufmerksamkeit: Er startet erstmals einen "Insektensommer", eine Aktion zur Erfassung des Artenreichtums. Derzeit wird die Zahl der Insektenarten bundesweit auf 33 500 und weltweit auf 1,2 Millionen geschätzt. Teilnehmer sollen an einem naturnahen Platz notieren, wie viele Krabbler und Fluginsekten sie wie oft in 60 Minuten sehen.
Insekten bilden Basis der Nahrungskette
Wozu der Aufwand für das, was da kreucht und fleucht? Stelzner hat etliche Gründe für den Schutz von Insekten parat: "Der wichtigste ist, dass sie in der Nahrungskette ganz unten stehen und ihr Wegfall fatal wäre für alles, was danach kommt, zum Beispiel für Vögel, Fledermäuse und Amphibien."
In urbanen Bereichen sei beim Insektenschutz noch viel an Luft nach oben, erklärt die Biologin. Parkanlagen, Spielplätze, Straßenränder könnten zu Oasen für Bestäuberinsekten wie Bienen, Schmetterlinge, Wespen und Schwebfliegen werden. Eine Dokumentation von Städte- und Gemeindebund und Bundesamt für Naturschutz zu "Insektenschutz in der Kommune" zeigt Praxisbeispiele wie die Entsiegelung von Flächen, die Anlage von Blühstreifen, den Verzicht auf Pestizide und künstliche Lichtquellen sowie eine insektenfreundliche Mahd.
Heimische Blumen statt exotischer
Ob sich die Schwaben mit dem vergleichsweise minimalistischen Grabschmuck anfreunden, scheint fraglich. Anders als bei den traditionellen Zierpflanzen blühen nicht alle heimischen Pflanzen zur gleichen Zeit. Doch Stelzner glaubt an ein generelles Umdenken auch in Privatgärten. "Die Leute sind sehr interessiert und können erst mal einzelne Gewächse in ihren Garten integrieren und dann die Vorteile erkennen." So würden weniger Wasser und Pflege für die winterharten Gewächse benötigt als für empfindliche Exoten.
Ohne Bestäuberinsekten karger Speiseplan
Thomas Schmitt, Direktor des Senckenberg Deutschen Entomologischen Instituts, plädiert für eine gewisse Unordnung im Garten. "Der englische Rasen ist der Tod der Insekten." Die Bedeutung von Insekten für den Menschen könne gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. "Wenn wir die Insekten nicht zur Bestäubung der Pflanzen hätten, wäre unsere Nahrungsauswahl armselig: keine Äpfel, Birnen, Heidelbeeren - stattdessen nur Kartoffeln, Getreide und Mais."
Der Experte rückt eine weitere wichtige Funktion der Insekten in den Fokus: Ohne Mistkäfer würden Kot und Kadaver anderer Tiere nicht abgebaut - Invasionen von Maden und Fliegen wären die Folge. Nicht umsonst hat der Nabu den Stierkäfer zum "Insekt des Jahres" gekürt. "Er verwertet den Kot von Pflanzenfressern und trägt dadurch maßgeblich dazu bei, unsere Böden zu verbessern", heißt es zur Begründung. Der Mistkäfer leidet unter dem Verlust von Lebensraum und dem Einsatz von Entwurmungsmitteln bei Weidetieren.