- von Andreas Rinke und Thorsten Severin und Holger Hansen
Berlin (Reuters) - Je näher der Wahltag am 24. September rückt, desto prominenter machen sich die Parteien Gedanken über mögliche Koalitionen.
Wer könnte mit wem - und mit wem nicht, weil sich in einer solchen Koalition Kernanliegen nicht umsetzen ließen? Die Grünen haben für Aufregung gesorgt, als sie den Einstieg in den Ausstieg des Verbrennungsmotors zur Bedingung machten. Andere Parteien ziehen nach. Am Montag etwa schaltete die SPD Anzeigen mit einem handgeschriebenen Brief von Kanzlerkandidat Martin Schulz, in dem dieser vier Punkte für "nicht verhandelbar" erklärte.
Allerdings lohnt vor allem bei den wahrscheinlichsten Koalitionspartnern SPD, Grünen, FDP, CDU und CSU ein Blick darauf, welche Linien wirklich rot sind - und welche eher rosa erscheinen, also stark interpretierbar. Eine echte rote Linie hatte CDU-Chefin Angela Merkel bereits vor der heißen Phase des Wahlkampfes abgeräumt - die sogenannte "Ehe für alle". Diese wurde auch deshalb beschlossen, weil sowohl SPD, Grüne als auch FDP sie zur Grundvoraussetzung für ein Bündnis auch mit der Union gemacht hatten.
SPD
Einige der vier Forderungen des Schulz-Briefes sind so allgemein, dass sie keine klassische rote Linie darstellen. Dazu gehört etwa der Passus eines "starken und solidarischen Europa". Etwas anders ist dies im Bereich Arbeit mit drei Forderungen, die Schulz als unverhandelbar bezeichnet: gleiche Löhne für Männer und Frauen, ein Rückkehrrecht von Teil- in Vollzeit und die Abschaffung von ohne sachlichen Grund befristeten Arbeitsverträgen.
Das sind rote Linien, deren Verlauf in der Praxis allerdings fließend ist - und in Koalitionsverhandlungen dehnbar. "Natürlich kann der Gesetzgeber nur bedingt eingreifen, wenn es um gleiche Löhne geht", räumt Schulz selbst ein. Ein Rückkehrrecht von Teil- in Vollzeit sieht auch die Union vor. Streitpunkt ist dabei nur, ab welcher Betriebsgröße das möglich sein soll. Ein schwieriger Punkt wäre die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung.
Bei der Abschaffung etwa der Kita-Gebühren gibt es viel Spielraum, zumal dies in der Hoheit der Länder liegt. In der Rentenpolitik gibt es keinen unmittelbaren Handlungsbedarf, da nach Annahmen der Bundesregierung der Beitragssatz erst 2021 wieder steigt und das Rentenniveau nicht vor 2020 unter 48 Prozent eines Durchschnittslohns sinken dürfte. Koalitionspartner könnten daher auf Zeit spielen. Auffallend ist, dass die SPD die Steuerpolitik nicht als rote Linie nennt.
Die SPD hat sich mögliche Bündnisse offen gehalten, auch mit der Linkspartei und der FDP.
CDU
Als Kanzlerinnenpartei spielt die CDU eine besondere Rolle - weil sie immer kompromissbreiter sein muss. Dennoch hat CDU-Chefin Merkel in den vergangenen Tagen mehrere Punkte genannt, an denen die CDU in einer neuen Koalition auf jeden Fall festhalten will: Dazu gehört die Absage an Steuererhöhungen, der ausgeglichene Haushalt - und besonders der Verzicht auf eine erneute Reform der Erbschaftssteuer. "Mit uns nicht - darauf können Sie sich verlassen", sagte sie. CDU-Generalsekretär Peter Tauber nannte als rote Linien am Montag aber nur zwei: keine Koalition mit der AfD, keine Koalition mit der Linkspartei. "Ansonsten müssen demokratische Parteien untereinander, miteinander sprechen können, und auch in der Lage sein, Kompromisse zu schließen bei verschiedenen Fragen", sagte er.
CSU
Auch CSU-Chef Horst Seehofer formuliert seine Wahlforderungen mit erheblicher Vorsicht. Bedingungen für Koalitionsgespräche seien "Sicherheit und Ordnung" sowie "Vollbeschäftigung und Gerechtigkeit". "Wir werden nur mit Parteien koalieren, die diese beiden Begriffspaare in unserem Sinne auch realisieren", sagte Seehofer am Montag.[nL5N1LS166] Die Ankündigung, keine Koalition ohne eine Obergrenze bei der Aufnahme von Flüchtlingen von 200.000 Personen jährlich einzugehen, hat er wortreich relativiert. Ein Ausstiegsdatum für den Verbrennungsmotor lehnt die CSU ab. Aber der CSU-Chef hat bisher genau darauf geachtet, keine unerfüllbaren Forderungen aufzustellen.
GRÜNE
Grünen-Spitzenkandidat Cem Özdemir wiederholte am Wochenende die Forderung, dass die Grünen nur einem Bündnis beitreten würden, das den Einstieg in den Ausstieg des Verbrennungsmotors einleitet. In der Union wird dies aber nicht als Absage an ein denkbares Bündnis Schwarz-Grün oder eine Jamaika-Koalition mit der FDP gesehen. Denn der "Einstieg in den Ausstieg" ist interpretierbar. Die Abgrenzung versucht Özdemir eher über die geäußerte Skepsis gegenüber Koalitionen. "Ich sehe nicht, wie wir mit dieser FDP zusammenkommen sollen", sagte er etwa - ausgeschlossen hat er aber weder Jamaika noch eine Ampelkoalition mit SPD und FDP. Alte echte rote Linien sind verschwunden, auch weil Merkel etwa ihre Atompolitik korrigierte.
FDP
FDP-Chef Christian Lindner macht immer wieder deutlich, dass seine Partei nur in die Regierung geht, wenn in einer Koalition die "liberale Handschrift" erkennbar ist. Am nächsten Sonntag will die FDP bei einem Parteitag zehn Punkte verabschieden, die die Grundlage für mögliche Koalitionsgespräche bilden sollen. Lindner spricht von "zehn Prüfsteinen" - was etwas anderes ist als rote Linien. Schwierig könnte es bei Steuern und Abgaben werden, die die FDP senken will. Das könnte diesmal auch für das Thema Europa gelten, bei dem sich die FDP anders als SPD, Union und Grüne skeptisch zu neuen Integrationsschritte wie einem Eurozonen-Budget gibt. Ähnlich wie die Grünen schließt Lindner ein Jamaika-Bündnis nicht aus, betont aber, dass ihm "die Fantasie" dafür fehle.
(Mitarbeit: Jörn Poltz)