Über kaum eine deutsche Aktie wurde in der jüngsten Vergangenheit wohl nur annähernd so viel geschrieben wie über Wirecard AG (DE:WDIG) (WKN: 747206). Wenn man sich die Aussagen von Marktteilnehmern anhört, gibt es eigentlich nur zwei Meinungen.
Für die einen sind alle Anschuldigungen durch die Financial Times gerechtfertigt und das Unternehmen ist dem Untergang geweiht. Laut Bundesanzeiger sind aktuell 3,6 % des Unternehmens leer verkauft und gemäß Datendienst IHS Market sollen es sogar 6,2 % sein. Für die anderen ist die aktuelle Situation eine sensationelle Chance, wie man z. B. an den aufgestockten Positionen der deutschen Fondsgesellschaften DWS (WKN: DWS100) und Union Investment erkennen kann.
Der Markt, das Unternehmen und der Prüfungsbericht Ich zähle mich selbst zu der zweiten Gruppe. Das Unternehmen ist nämlich als Zahlungsdienstleister in einem sehr attraktiven Markt tätig. Laut Statista soll der Markt für digitale Zahlungen bis 2023 um jährlich 12 % wachsen. Verantwortlich soll hierfür neben dem wachsenden E-Commerce auch die bargeldlose Bezahlung im Alltag sein. Daneben möchte Wirecard dadurch wachsen, dass man die Kunden bei Bonitätsprüfungen, der Betrugsprävention, der Finanzierung, durch Lösungen zur Datenanalyse und bei der Einführung von Kundenbindungsprogrammen unterstützt.
In meinen Augen werden diese Themen alle Unternehmen beschäftigen, die in einer zunehmend digitalisierten Welt bestehen möchten. Daher bin ich von den Produkten und Lösungen langfristig überzeugt. Aktuell wird der Aktienkurs allerdings durch die Manipulationsvorwürfe durch die Financial Times und die noch laufende Sonderprüfung durch KPMG belastet.
Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieser sonderlich negativ ausfallen wird. Die Aussagen, welche zuletzt durch den Vorstandsvorsitzenden (gleichzeitig größter Aktionär) und den Aufsichtsratsvorsitzenden in der Öffentlichkeit getroffen wurden, deuten für mich ganz klar auf keine nennenswerten Beanstandungen hin. Daher stellt sich die Frage: Wo liegt der wahre Wert des Unternehmens, sobald die Vorwürfe ausgeräumt werden konnten?
Kennzahlenanalyse des Unternehmens Sprechen die Kennzahlen in Anlehnung an Warren Buffett und Peter Lynch für einen Wettbewerbsvorteil? Die Kriterien sind für mich vollständig erfüllt wenn,
- die Bruttomarge über 60 % liegt,
- die Nettomarge über 20 % liegt,
- die Eigenkapitalrendite über 15 % liegt,
- die Summe der Investitionen maximal 80 % der aufsummierten Gewinne beträgt,
- die Finanzverbindlichkeiten in maximal vier Jahren zurückgezahlt werden können,
- der Verschuldungsgrad (Summe Fremdkapital/Summe Eigenkapital) maximal 80 % beträgt,
- das Wachstum vom EBIT (Earnings before Interest and Taxes = Gewinn vor Zinsen und Steuern) mindestens 10 % beträgt und
- das Wachstum vom Umsatz mindestens 5 % beträgt.
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Die Bruttomarge des Unternehmens erfüllt meinen Zielwert nicht ganz, weil man Gebühren der kreditkartenausgebenden Banken und Kreditkartengesellschaften bezahlen muss. Daher ist das Ziel von Wirecard nachvollziehbar, bis 2025 größere Teile des Umsatzes durch andere Services für die Kunden erzielen zu wollen.
Das leicht erhöhte Investitionsvolumen der jüngeren Vergangenheit finde ich aufgrund des extrem starken Wachstums nachvollziehbar. Der Verschuldungsgrad ist bei reiner Betrachtung der Finanzverbindlichkeiten ebenfalls im Rahmen und könnte mit dem aktuellen Gewinn in unter vier Jahren zurückgezahlt werden.
Die Kennzahlen sprechen somit ebenfalls für ein sehr gutes Unternehmen. Abschließend möchte ich mir daher die Bewertung ansehen.
Bewertung der Aktie Um einen schnellen Überblick über die aktuelle Bewertung der Unternehmen zu erhalten, verwende ich das Peter-Lynch-Chart. Hier wird der 15-fache Gewinn je Aktie dem Aktienkurs gegenübergestellt. Ist die Kurslinie höher als die Gewinnlinie, scheint die Aktie eher überbewertet zu sein, und umgekehrt.
Zusätzlich verwende ich noch eine Linie, bei der der Gewinn je Aktie mit dem historischen durchschnittlichen KGV (Kurs-Gewinn-Verhältnis) im jeweiligen Betrachtungszeitraum multipliziert wird.
Eigene Darstellung, Quelle: EPS: Traderfox, EPS-Prognose: Marketscreener, Kurse: boerse.de, Stichtag 06.02.2020
Das R² von 0,72 wird dadurch belastet, dass das Unternehmen in den letzten Jahren im Gewinnwachstum sehr stark angezogen hat. Aufgrund des schnellen Wachstums würde ich mich bei dem Unternehmen eher an der Linie mit dem historischen KGV orientieren. Damit würde ich den fairen Wert bei ca. 180 Euro sehen.
Bei der Betrachtung mit einem DCF-Modell erhalte ich einen Wert von ca. 205 Euro. Hier habe ich mit einem Abzinsungsfaktor von 10 % gerechnet und ausgehend von den Werten für 2018 ein jährliches Umsatzwachstum von 31 % für die ersten fünf Jahre und danach ein stetig fallendes Wachstum bis zum Wert von 3 % ab 2029 unterstellt. Bei der Zahl habe ich mich an der Vision 2025 von Wirecard orientiert und unterstellt, dass diese leicht verfehlt wird. Die EBIT-Marge sinkt im Modell kontinuierlich vom Ausgangswert mit 23,2 % in 2018 auf den Durchschnitt der letzten fünf Jahre mit 22 %.
Der faire Wert Für mich liegt damit der faire Wert des Unternehmens im Bereich zwischen 180–205 Euro. Das Unternehmen ist in meinen Augen dadurch aktuell unterbewertet und der Aktienkurs sollte durch einen positiven Prüfbericht schnell im Wert steigen. Aufgrund der langfristigen Aussichten ist das Unternehmen in der oben genannten Spanne ein interessantes Langfristinvestment. Sollte es im Zuge eines Shortsqueeze zu Übertreibungen kommen und Mr. Market verrückte Preise aufrufen (siehe Tesla (NASDAQ:TSLA) (WKN: A1CX3T)), würde ich über einen Verkauf meiner Anteile nachdenken.
Florian Hainzl besitzt Aktien von Wirecard. The Motley Fool besitzt keine der erwähnten Aktien.
Motley Fool Deutschland 2020