BERLINER MORGENPOST: Wirtschaft? Keine Ahnung - Leitartikel
Berlin (ots) - Wir Deutschen sind ja die geborenen Experten. Vati
weiß alles über Kopfballstärken und Linksfüße. Der Sohn kennt alle
strategischen Kniffe beim Computerspiel 'World of Warcraft'. Mutti
wiederum analysiert jedes Blatt Salat auf seinen Nährwert und die
Herkunft aus biologisch-brandenburgischem Anbau. Wenn wir wollen,
dann wissen wir Bescheid. Nur eine Disziplin, die kommt zu kurz -
Wirtschaft. Zwar sind wir begnadete Schnäppchenjäger, die
Winterstiefel im Internet mit Maximalrabatt ergattern. Aber die
großen Zusammenhänge der Ökonomie, tja, die ..., also - weiß man
jetzt auch nicht so genau. Zum Beispiel die einfache Frage: Was macht
die Europäische Zentralbank? In einer 80 Seiten starken
Info-Broschüre stehen Sätze wie: 'Aufgrund seiner Liquidität erbringt
Geld seinem Besitzer eine Dienstleistung, indem es Transaktionen
erleichtert.' Alles klar? Natürlich nicht. Aber solche Sätze darf das
Institut ungestraft verbreiten, weil den Kram eh keiner liest und
keiner sich beschwert. Es wäre nun zu leicht, die Schuld, wie immer,
bei der Politik abzuladen. Der Bürger selbst steht in der Pflicht,
sich kundig zu machen. Beim Kauf eines neuen Autos schafft er das ja
auch, wenn er hingebungsvoll Testberichte studiert und am liebsten
mit dem Stethoskop noch in die letzte Kurbelwelle hineinhorcht. Bei
ökonomischen Themen fehlt diese Leidenschaft. Mehrere Forscher haben
ermittelt, wie es um unser Fachwissen zur Geldpolitik steht. Das
Ergebnis ist ernüchternd bis erschreckend. Selbst angehende Ökonomen
blicken nur selten durch, wie eine Studie mit Studenten ergab. In
Sachen wirtschaftspolitischem Wissen rangiert Deutschland
international irgendwo im Mittelfeld, weit abgeschlagen hinter
Hongkong oder Singapur. Wie aber soll der Wähler sich für eine
Politik entscheiden, wenn er nicht mal im Ansatz kapiert, was da
gerade mit den Zinsen für italienische Anleihen geschieht und wie
eine EZB warum darauf reagiert? Aber in welcher Schule ist
Geldpolitik Unterrichtsstoff, in welcher Familie Gesprächsthema beim
Abendbrot? Ein Grund für die Finanzkrise der Jahre 2008/2009 war,
dass sich Amerikaner abenteuerliche Darlehen aufschwatzen ließen,
deren Zinsmechanismen sie nicht verstanden. Und der deutsche Anleger
kaufte Lehman-Zertifikate, weil der Herr von der Bank so nett
griente. Wie aber reagiert der Mensch, der keine Ahnung hat in
Krisenzeiten wie diesen? Er flieht sich in Stereotypen, gern der
aggressiven Sorte: Alle Banker sind Schweine, die Griechen sowieso
und die Italiener erst, und Geld sowieso ein schmutziges Geschäft.
Mit solchen Plattheiten, der Psychologe spricht von Kompensation,
wird man der komplexen Krise kaum gerecht. Wirtschaft ist eine
Wissenschaft, mit ihren Irrungen, aber auch mit einem gehörigen
historischen Erfahrungsschatz. Auch eine Lehre aus der Krise: Statt
nutzloses Wissen über Mondphasen-Apps anzuhäufen, könnte der Bürger
zur Abwechslung mal ein wenig Wirtschaftskunde inhalieren.
Originaltext: BERLINER MORGENPOST
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BERLINER MORGENPOST
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de
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weiß alles über Kopfballstärken und Linksfüße. Der Sohn kennt alle
strategischen Kniffe beim Computerspiel 'World of Warcraft'. Mutti
wiederum analysiert jedes Blatt Salat auf seinen Nährwert und die
Herkunft aus biologisch-brandenburgischem Anbau. Wenn wir wollen,
dann wissen wir Bescheid. Nur eine Disziplin, die kommt zu kurz -
Wirtschaft. Zwar sind wir begnadete Schnäppchenjäger, die
Winterstiefel im Internet mit Maximalrabatt ergattern. Aber die
großen Zusammenhänge der Ökonomie, tja, die ..., also - weiß man
jetzt auch nicht so genau. Zum Beispiel die einfache Frage: Was macht
die Europäische Zentralbank? In einer 80 Seiten starken
Info-Broschüre stehen Sätze wie: 'Aufgrund seiner Liquidität erbringt
Geld seinem Besitzer eine Dienstleistung, indem es Transaktionen
erleichtert.' Alles klar? Natürlich nicht. Aber solche Sätze darf das
Institut ungestraft verbreiten, weil den Kram eh keiner liest und
keiner sich beschwert. Es wäre nun zu leicht, die Schuld, wie immer,
bei der Politik abzuladen. Der Bürger selbst steht in der Pflicht,
sich kundig zu machen. Beim Kauf eines neuen Autos schafft er das ja
auch, wenn er hingebungsvoll Testberichte studiert und am liebsten
mit dem Stethoskop noch in die letzte Kurbelwelle hineinhorcht. Bei
ökonomischen Themen fehlt diese Leidenschaft. Mehrere Forscher haben
ermittelt, wie es um unser Fachwissen zur Geldpolitik steht. Das
Ergebnis ist ernüchternd bis erschreckend. Selbst angehende Ökonomen
blicken nur selten durch, wie eine Studie mit Studenten ergab. In
Sachen wirtschaftspolitischem Wissen rangiert Deutschland
international irgendwo im Mittelfeld, weit abgeschlagen hinter
Hongkong oder Singapur. Wie aber soll der Wähler sich für eine
Politik entscheiden, wenn er nicht mal im Ansatz kapiert, was da
gerade mit den Zinsen für italienische Anleihen geschieht und wie
eine EZB warum darauf reagiert? Aber in welcher Schule ist
Geldpolitik Unterrichtsstoff, in welcher Familie Gesprächsthema beim
Abendbrot? Ein Grund für die Finanzkrise der Jahre 2008/2009 war,
dass sich Amerikaner abenteuerliche Darlehen aufschwatzen ließen,
deren Zinsmechanismen sie nicht verstanden. Und der deutsche Anleger
kaufte Lehman-Zertifikate, weil der Herr von der Bank so nett
griente. Wie aber reagiert der Mensch, der keine Ahnung hat in
Krisenzeiten wie diesen? Er flieht sich in Stereotypen, gern der
aggressiven Sorte: Alle Banker sind Schweine, die Griechen sowieso
und die Italiener erst, und Geld sowieso ein schmutziges Geschäft.
Mit solchen Plattheiten, der Psychologe spricht von Kompensation,
wird man der komplexen Krise kaum gerecht. Wirtschaft ist eine
Wissenschaft, mit ihren Irrungen, aber auch mit einem gehörigen
historischen Erfahrungsschatz. Auch eine Lehre aus der Krise: Statt
nutzloses Wissen über Mondphasen-Apps anzuhäufen, könnte der Bürger
zur Abwechslung mal ein wenig Wirtschaftskunde inhalieren.
Originaltext: BERLINER MORGENPOST
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