- von Andreas Rinke
Berlin (Reuters) - Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warnt vor neuen Mauern in Deutschland - und er beschreibt damit eines der dringendsten Probleme der nächsten Regierung.
Denn Deutschland droht wirtschaftlich, demografisch und politisch auseinander zu driften. Eine neue Studie zur Entwicklung der Bevölkerung unterstreicht die Dramatik noch: Denn danach wird die Bevölkerung bis 2035 um eine Million Menschen auf 83,1 Millionen steigen - aber keineswegs überall: Während Städte wie Berlin, Hamburg und München sehr stark wachsen werden, wird für ostdeutsche Flächenländer wie Sachsen-Anhalt und Thüringen ein weiterer Rückgang der Bevölkerung prognostiziert.
Bereits seit Monaten rückt die wachsende Kluft der Lebensverhältnisse in Deutschland langsam, aber stetig in den Vordergrund der politischen Debatten. "Wir wissen, dass die Situation der Menschen in Deutschland völlig unterschiedlich zwischen München und anderen Regionen ist", hatte Merkel etwa in Wahlkampfreden eingeräumt und eine viel stärker differenzierte Politik für unterschiedliche Landesteile angekündigt.[nL5N1LU3PA] Sowohl Union als auch SPD betonten den Druck in ihren Wahlprogrammen. Merkel kennt den Trend der Entvölkerung, fehlender Jobs und schlechter Infrastruktur-Versorgung ohnehin dünn besiedelter Gebiete aus eigener Anschauung in Vorpommern - ihr eigener Wahlkreis musste wegen sinkender Bevölkerungszahlen 2017 neu zugeschnitten und vergrößert werden.
POLITISCHER DRUCK SCHIEBT DEBATTE AN
Zumindest in Ostdeutschland wird das Gefühl des Abgehängtseins in einigen Regionen von Demoskopen mitverantwortlich für das gute Abschneiden der rechtspopulistischen AfD gemacht. Das treibt die anderen Parteien an. So warnt der Vizevorsitzende der Links-Bundestagsfraktion, Jan Korte, vor einem weiteren Rechtsruck, wenn der Bund nicht Milliarden Euro in strukturschwache Gebiete stecke. Gleichzeitig steigt die Spannung in Ballungsgebieten, weil sich Bewohner in vielen wachsenden Städten trotz guter Einkommen immer weniger Wohnraum leisten können. Allein für Studenten stiegen in Groß- und Universitätsstädten die durchschnittlichen Preise bei Neuvermietungen laut einer IW-Studie seit 2010 um bis zu 70 Prozent.
Dabei gibt es zwei Faktoren, die das Problem der Zerrissenheit verschärfen: Zum einen betrifft dies das klassische Stadt-Land-Gefälle, das auch in reichen Bundesländern wie Bayern zu beobachten ist. Dort wächst die Einwohnerzahl nach den Daten des IW-Forschers Philipp Deschermeier bis 2035 zwar durchschnittlich um 3,9 Prozent - in München aber um 14,4 Prozent.
Zum anderen fällt den Politikern nun auf die Füße, dass sie viel zu lange an den Berechnungen der Demografen festgehalten haben, die eine Schrumpfung der Bevölkerung voraussagten: Aber seit einigen Jahren deutet sich an, dass wegen sehr starker Zuwanderungszahlen und langsam steigender Geburtenraten das Gegenteil der Fall ist. Bedarf und Planung klaffen deshalb auseinander: So kritisierte der Kreisvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung in Mönchengladbach, Arno Theilmeier, am Mittwoch im Deutschlandfunk, dass die Zahl von Medizinstudienplätzen in Westdeutschland von 12.000 im Jahr 1990 auf heute noch 9000 gesunken sei. Weil Ärzte zudem in Großstädte streben, in denen sie mehr verdienen, wird die Unterversorgung in den ländlichen Gebieten noch größer werden.
NEUES MINISTERIUM FÜR LÄNDLICHE RÄUME?
Soll die Kluft nicht weiter aufreißen, muss die nächste Koalition in einer Vielzahl von Politikfeldern massiv umsteuern. Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) hatte schon vor einigen Tagen ein eigenes Ministerium für ländliche Räume gefordert. Auch der Deutsche Landkreistag macht Druck: "Die Schaffung eines Bundesministeriums für die ländliche Entwicklung könnte hier einen wesentlichen Beitrag zur Bündelung verschiedener Zuständigkeiten leisten", sagte der Präsident des Landkreistages, Reinhard Sager, zu Reuters.
Das Problem aus Sicht der kleineren Kommunen: Obwohl rund die Hälfte des deutschen Bruttosozialprodukts außerhalb großer Zentren erwirtschaftet wird, fehlt es mittlerweile an allem: Ärzten und Pflegekräften für eine alternde Bevölkerung, einem ausreichenden Netz an öffentlichem Nahverkehr, oft sogar Einkaufs- und Bildungsmöglichkeiten, einer guten Breitbandanbindung und deshalb zumindest teilweise auch an Jobs.
In der noch amtierenden Bundesregierung wird mittlerweile eingeräumt, dass etwa das Ziel der Internet-Anbindung aller Haushalte in Deutschland bis 2018 mit einer Übertragungsrate von 50 Megabit pro Sekunde zwar gut gemeint gewesen, aber alles andere als ausreichend sei. Denn während in den Großstädten Kunden teilweise schon Verbindungen im Gigabit-Tempo angeboten werden, klagen viele Dörfer über langsame Internet-Verbindungen. Merkel und der Landkreistag haben bereits gefordert, dass man für Investitionen in ländlichen Räumen auch die EU-Beihilferegelungen lockern müsse. Weil Firmen keine Profite in dünn besiedelten Regionen erwarteten, werde oft der Staat einspringen müssen, mahnte die Kanzlerin.
Die Vielzahl der Herausforderungen dürfte deshalb in allen Fachdebatten der Sondierungsgespräche zwischen CDU, CSU, FDP und Grüne eine Rolle spielen. Einfach werde die Debatte nicht, heißt es etwa in der Union: Denn Grüne und FDP gelten eigentlich als klassische Großstadtparteien, weil dort ihre meisten Wähler leben.