Heldendämmerung lautete meine letzte Kolumne, doch derzeit dämmert uns allen, die wir sicher keine Helden sind, in welcher verfahrenen Situation wir stecken. Als ob Corona, Lieferkettenprobleme und Inflation nicht ausreichten, hängt nicht unser Wohlstand zum großen Teil von der Willkür des russischen Potentaten ab, der mit diebischer Freude den Gashahn mal mehr, mal weniger aufdreht? Die griechischen Helden waren letzten Endes der Gunst der Götter ausgeliefert, wie wir Putins Gnaden. Edel, hilfreich und gut waren weder die Götter damals noch sind es Putin oder andere Potentaten heute – allerdings haben wir uns aus eigener Schuld in diese Abhängigkeit gebracht (während man sich die Götter nicht wirklich aussuchen konnte). wir stellen die Kolumne von Norbert Betz (Börse München) vor.
Quadratur des Kreises
Einen wesentlichen Anteil an den vergangenen Kurskapriolen hat die Europäische Zentralbank. Sie muss derzeit eine Quadratur des Kreises versuchen. (Dass dies mathematisch nicht möglich ist, hat übrigens Ferdinand von Lindemann erst 1882 beweisen können). Das Problem für die EZB: Einerseits die Zinsen zu steigern, um die Inflation und die Inflationserwartungen zu senken, andererseits die hoch verschuldeten Euro-Länder daran zu hindern, dass sie durch höhere Zinszahlungen und kräftige Risikoaufschläge auf dem Kapitalmarkt in die Knie gehen.
Falken und Tauben
Die Zinsen hat die EZB überraschend kräftig um 50 Basispunkte angehoben und weitere Zinsschritte noch in diesem Jahr angekündigt – hier haben sich die Falken der Notenbank durchgesetzt. Damit sich die Spreads zwischen den Zinspapieren der Südländer und der Nordländer – um es einmal zu simplifizieren – nicht zu hoch ausfällt, hat sie sich ein neues Programm aufgelegt: den unlimitierten Ankauf von Anleihen notleidender Länder unter dem hübschen Namen „Transmission Protection Instrument“ oder kurz TPI. Hier hatten die Tauben das sagen. Wir haben jedenfalls den Fall eines gemischten Falken- und Taubenflugs seitens der EZB. Willkommen in einem weiteren Feld der Interventionsspirale und der Anmaßung von Wissen. Nachzulesen bei Ludwig von Mises.
Konzentration auf das Wesentliche
Doch was bedeutet dies für Anleger, denen zumeist die Gabe, aus dem Vogelflug die Zukunft zu erkennen, wie es die alten Seher (nicht nur im Asterixheft) noch konnten, oder zumindest vorgaben, zu können, fehlt? Soll man Europa und dem Euro den Rücken kehren und in anderen Nationen und Regionen anlegen? Zeigt uns der Krieg in der Ukraine und der Konflikt mit Russland nicht auf, wie klein unsere Welt der westlichen Hemisphäre tatsächlich geworden ist? Dass wir große Anstrengungen unternehmen müssen, um unseren Wohlstand zu halten und ihn nicht durch intensives Beackern von Nebenschauplätzen zu verspielen – wie diese heißen, überlasse ich Ihnen, es gibt ausreichend davon und stehen jeden Tag prominent in den Gazetten.
Die Stunde der Weisen
Ganz auf Aktien aus Deutschland verzichten muss deshalb niemand, trotzdem sollte man sich genau umsehen und derzeit auf defensive Branchen setzen. Im Gesundheitssektor beispielsweise gibt es viele auch mittelständische Unternehmen, die weltweit überzeugen. Daneben gibt es Länder, die weniger von Inflation und Energieknappheit heimgesucht werden als wir, weil sie in den vergangenen Jahren einiges besser gemacht haben (schwer war das nicht). Es ist das alte Spiel: Genau hinsehen, Gelegenheiten ergreifen, Verlustbringer aussortieren und Panik – Kauf- wie Verkauf-Panik – vermeiden. Die Zeiten, in denen an der Börse (fast) alles stieg und jeder schnell zum Börsenstar avancierte, sind auf absehbare Zeit vorbei. Jetzt schlägt die Stunde der Weisen.
Dieser Artikel erschien zuerst im Nebenwerte Journal