Investing.com – Die europäischen Länder suchen weiterhin nach praktikablen Alternativen zur Abhängigkeit von russischem Gas, um ihren Energiebedarf zu decken. Russland liefert derzeit 35-40 Prozent des europäischen Gasbedarfs. Der Krieg in der Ukraine hat deutlich gemacht, dass Europa seinen Energiebedarf dringend diversifizieren muss und dass langfristig an einer Umstellung auf erneuerbare Energieträger kein Weg vorbeiführt.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) warnt unterdessen, dass die Gasversorgung in der Region im nächsten Winter unzureichend sein wird, wenn die Lieferungen über die Ukraine ausbleiben.
Dies wirft die Frage auf, ob der „REPowerEU“-Plan zur Verringerung der Abhängigkeit von russischem Gas realisierbar ist. Das Team der Energieexperten von Schroders (LON:SDR) – Mark Lacey, globaler Portfoliomanager für Energie und Edelmetalle, Alexander Monk, globaler Analyst für erneuerbare Energien, und Felix Odey, globaler Analyst für erneuerbare Energien bei Schroders – warfen einen tieferen Blick auf die fünf Hauptziele des Vorhabens und die sich daraus ergebenden Herausforderungen.
Ziel 1: Import von zusätzlichen 50 Milliarden Kubikmetern LNG aus alternativen Quellen
Schon vor dem Einmarsch in die Ukraine hatte Europa den russischen Gasverbrauch reduziert und mehr LNG importiert. Problematisch ist, dass die USA nicht über ein so großes Angebot verfügen und Europa mit anderen Ländern um importierte LNG-Ladungen konkurriert.
Der weltweite LNG-Markt beläuft sich derzeit auf etwa 400 Millionen Tonnen pro Jahr (560 Milliarden Kubikmeter). Es wird erwartet, dass er in den nächsten zehn Jahren um mindestens 20-25 Millionen Tonnen pro Jahr wachsen wird, denn wichtige Märkte wie China und Indien erhöhen ihre LNG-Importkapazität.
Ein weiteres Problem ist, dass LNG, wie der Name schon sagt, flüssig ist und vor der Nutzung wieder in Gas umgewandelt werden muss. Dieser Prozess wird „Regasifizierung“ genannt. Europa verfügt jedoch nur über sehr geringe Kapazitäten zur Regasifizierung von LNG.
Seit dem ersten Quartal 2021 haben sich die europäischen LNG-Importe bereits fast verdoppelt und lagen im Februar 2022 bei 453 Mio. Kubikmeter/Tag. Dies liegt nahe an der „theoretischen Kapazität“ von 560 Mio. Kubikmeter/Tag.
Leider bedeutet die „theoretische Kapazität“ nicht, dass der europäische Markt als ganzes Zugriff auf Gas hat. In Spanien und Portugal gibt es etwa eine kombinierte Kapazität von rund 200 Mio. Kubikmeter pro Tag. Die Pipeline-Kapazität für das übrige Europa liegt jedoch eher bei 115 Mio. Kubikmeter pro Tag, sodass es unmöglich ist, all dieses zusätzliche Gas dorthin zu bringen, wo es gebraucht wird, z. B. nach Deutschland oder Österreich.
Die gute Nachricht ist, dass Europa einen weiteren Ausbau seiner LNG-Importkapazitäten plant; die schlechte Nachricht ist, dass mit dem Bau der dafür erforderlichen Infrastruktur noch nicht begonnen wurde.
Ziel 2: Steigerung der nicht-russischen Pipeline-Importe um 10 Milliarden Kubikmeter
Wenn die Verschiffung von mehr LNG nicht die Lösung ist, wie wäre es dann mit einer Erhöhung des Angebots durch bestehende Pipelines? Ohne eine weitere Erschließung von Gasfeldern wird dies sehr schwierig werden. Die Produktionsfelder sind zurzeit voll ausgelastet.
Etwa 100 Mio. Kubikmeter/Tag kommen aus Algerien, wo der Betreiber Sonatrach das Erweiterungsprojekt Tinrhert im Bau hat. Dieses Projekt wird die Versorgung um weitere 11 Mio. Kubikmeter pro Tag erhöhen. Andere größere Erweiterungen der Gasfelder sind jedoch nicht geplant.
Norwegen und das Vereinigte Königreich versorgen Europa derzeit zusammen mit einer Produktion von etwa 425 Mio. Kubikmeter pro Tag. Aber wie in Algerien war auch hier die Entwicklung der Felder in den letzten Jahren sehr begrenzt.
Ziel 3: Verringerung der Erdgasnachfrage um 20 Mrd. Kubikmeter durch den Ausbau erneuerbarer Energiequellen
Die Konzentration auf erneuerbare Energien ist die logischste und nachhaltigste Lösung. Dabei handelt es sich jedoch um eine langfristige Lösung, die nicht ausreichen wird, um 20 Mrd. Kubikmeter Gas im Jahr 2023 zu ersetzen.
Unter Kostengesichtspunkten ist die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien durch Wind- und Solarenergie selbst bei den jüngsten Rohstoffpreissteigerungen bereits deutlich billiger als die Stromerzeugung aus Gas- und Dampfturbinen (GuD) und Kohle. Angesichts des aktuellen Anstiegs der Gas- und Strompreise ist das Argument der Wirtschaftlichkeit unschlagbar.
Die Investitionsausgaben für die Erzeugung erneuerbarer Energien liegen jedoch weit unter dem, was zur Erreichung der Ziele für 2030/2050 erforderlich ist. Das Gleiche gilt für die damit verbundenen Investitionen in die Übertragungs- und Verteilungsnetze.
Das Hauptproblem bei der Entwicklung erneuerbarer Energiequellen ist nicht der politische Wille oder die Rentabilität der Investitionen, sondern die Logistik und der Transport der Technik von der Fabrik zum Projektstandort. Der Grund dafür sind die Einschränkungen in den chinesischen Großstädten aufgrund des Wiederauftretens von Covid-19. Zudem ist das Angebot der Chipindustrie (ETR:VVSM) nach wie vor begrenzt, und die Verfügbarkeit von Frachtschiffen und Containerkapazitäten ist auch weiterhin stark beeinträchtigt.
Ausrüstungslieferanten und Entwickler erneuerbarer Energien gehen davon aus, dass diese Beschränkungen in der Lieferkette erst im Jahr 2023 nachlassen werden. Somit ist auch auf diesem Weg keine schnelle Lösung in Sicht.
Zielvorgabe 4: Nutzung von Energieeffizienzmaßnahmen zur Verringerung der Nachfrage um 15 Mrd. Kubikmeter
Die ersten drei Ziele, die wir angesprochen haben, decken weitgehend die Angebotsseite ab, aber was ist mit der Nachfrageseite – könnten Maßnahmen wie das Herunterdrehen der Thermostate oder die Installation von Wärmepumpen etwas bewirken?
Rund 35 % der Gewerbe- und Wohngebäude in der EU werden mit Gas beheizt. Es besteht kein Zweifel daran, dass die derzeit hohen Gas- und Strompreise zu einem vorübergehenden und dauerhaften Rückgang der Nachfrage führen.
Zahlreiche Industriezweige – hauptsächlich die Hersteller von Düngemitteln und Zement – haben aufgrund der hohen Gaspreise kurzfristige Betriebsstilllegungen angekündigt. Eine aktuelle Bloomberg-Analyse hat ergeben, dass eine Senkung der Raumtemperatur um 1,75 Grad Celsius die jährliche Nachfrage in Europa im privaten und gewerblichen Bereich um 10 % (oder etwa 14 Milliarden Kubikmeter) senken könnte.
Wo dies möglich ist, sind Wärmepumpen ein wirksames Mittel zur Senkung des Gesamtgasverbrauchs. Die EU möchte die Einführung dieser Geräte in den Haushalten beschleunigen, um den EU-Markt in den nächsten fünf Jahren um mindestens 10 Millionen Geräte zu vergrößern. Wir schätzen, dass dies einen Beitrag zur Ersetzung der Erdgasnachfrage in Höhe von 1,5 bis 2,0 Milliarden Kubikmeter leisten wird. Die größte Hürde für private (und gewerbliche) Verbraucher sind nach wie vor die Anschaffungskosten, die mehr als doppelt so hoch sind wie bei einer herkömmlichen Heizanlage. Wir gehen davon aus, dass sich die relativen Kosten in den nächsten fünf bis zehn Jahren mit zunehmenden Mengen verbessern werden.
Zielvorgabe 5: Befüllung der Speicher auf 80 % der Kapazität bis November
Ferner enthält der REPowerEu-Plan das Ziel, die Speicher bis zum 1. November 2022 auf 80 % und in den Folgejahren auf 90 % der Kapazität aufzufüllen. Dies ist ein eher konventionelles Ziel, denn es sieht im Wesentlichen vor, dass die Marktteilnehmer (Versorgungsunternehmen/Speicherbetreiber) im Sommer Gas zu jedem Preis auf dem Markt kaufen müssen, um im Winter einen Versorgungsengpass zu vermeiden.
Derzeit liegen die Gasspeicherbestände in Europa etwa 25 % unter dem Normalwert, aber über den Tiefstständen von 2018.
US-Erdgasproduzenten sind die Gewinner
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es für Europa keine einfachen Antworten gibt, wenn es darum geht, Erdgas zu ersetzen. Europa ist heute in hohem Maße von LNG-Importen abhängig, um seinen Energiebedarf zu decken, und der Aktionsplan REPowerEU wird den Übergang zu neuen, unbedenklicheren Lieferanten beschleunigen.
Die Vereinigten Staaten stehen in den Startlöchern, um diesen Weg zu ebnen. Das Land verfügt in den Appalachen, in Texas und im Permian-Gebiet über beträchtliche Ressourcen. Diese haben das Potenzial, die benötigen Exporte abzudecken. Der überwiegende Teil dieses Gases dürfte für die europäischen Märkte bestimmt sein.
Die Terminmarktpreise für Gaskontrakte sind in den USA bereits von unter 3,00 $/Mcf vor zwei Jahren auf jetzt 3,50-4,00 $/Mcf gestiegen. Wir glauben, dass die Preise langfristig weiter steigen dürften, denn die USA werden zu einem immer wichtigeren globalen Gaslieferanten.
Die US-Unternehmen, die von dieser steigenden Nachfrage und den höheren Preisen am meisten profitieren werden, sind diejenigen, die über eine kostengünstige Ressourcenbasis und einen einfachen Zugang zu US-LNG-Exportanlagen verfügen.