BERLIN/BONN (dpa-AFX) - Im Koalitionsstreit über die weitere Nutzung von Atomkraftwerken wächst der Zeitdruck, doch eine Lösung zeichnet sich nicht ab. Die Grünen beschlossen die Position ihrer Parteiführung am Wochenende auch formal auf einem Parteitag. FDP-Finanzminister Christian Lindner warnte hingegen vor roten Linien. Die SPD hielt sich mit einer eigenen Positionierung weiter zurück. Erwartet wurde, dass sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Grünen-Wirtschaftsminister Robert Habeck und Lindner zeitnah, womöglich noch am Sonntag, zusammensetzen und nach einem Ausweg suchen.
SPD-Parlamentsgeschäftsführerin Katja Mast rief zu "gesundem politischen Pragmatismus" in den nächsten Tagen und Wochen auf. "Mein Eindruck ist, dass die Menschen nicht interessiert, wer welche politischen Aktien in der Atomdebatte hat", sagte sie der Deutschen Presse-Agentur. Viel wichtiger sei, wie Energiesicherheit hergestellt und die Energiepreise gesenkt werden könnten. "Ich bin zuversichtlich, dass die Ampel diese Fragen löst. Zeitnah und in der gebotenen politischen Ernsthaftigkeit."
Grünen-Chef Omid Nouripour räumte ein: "Die Zeit drängt." Bei RTL/ntv zeigte er sich vorsichtig optimistisch. "Wir werden miteinander reden und wie immer natürlich eine Lösung finden." Doch wie die aussehen könnte, blieb am Sonntag zunächst im Dunkeln.
Der Grünen-Parteitag hatte am Freitagabend in Bonn mit klarer Mehrheit den bisherigen Kurs der Parteiführung beschlossen: Die beiden süddeutschen Atomkraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim 2 sollen bis zum 15. April in einer Reserve gehalten und bei Bedarf weiter für die Stromerzeugung genutzt werden; das dritte noch verbleibende AKW Emsland hingegen soll zum 1. Januar 2023 endgültig abgeschaltet werden. Die FDP verlangt angesichts der stark gestiegenen Energiepreise dagegen einen Weiterbetrieb aller drei Kraftwerke bis ins Jahr 2024 und gegebenenfalls die Reaktivierung bereits stillgelegter AKW.
Nouripour sagte: "Wir hatten ja eigentlich eine Lösung. Die haben wir miteinander vereinbart in der Koalition." Im sogenannten "Doppel-Wumms"-Beschluss der Bundesregierung stehe, dass im Notfall die beiden süddeutschen Atomkraftwerke begrenzt weiterlaufen könnten; das bedeute, dass das AKW Emsland abgeschaltet werde. "Das ist der Beschluss, den wir miteinander vereinbart haben in der Koalition." Die FDP argumentiert aber, ihr Chef Lindner habe dennoch öffentlich deutlich gemacht, dass er eine andere Position habe.
Nouripour ergänzte, es gebe keine energiepolitische Notwendigkeit für eine längere Laufzeit des niedersächsischen Meilers. "Deshalb wüsste ich jetzt nicht, warum wir da was ändern sollten."
FDP-Chef Lindner drängte die Grünen am Samstag auf Twitter nachzugeben. "Wenn es darum geht, Schaden von unserem Land abzuwenden, hohe Energiepreise zu reduzieren und Blackouts zu verhindern, dann gibt es für mich keine roten Linien. Es geht hier nicht um Parteipolitik. Über meinen finanzpolitischen Schatten bin ich schon Milliarden mal gesprungen", schrieb der Finanzminister.
Bundeskanzler Olaf Scholz hatte am Freitag eine rasche Verständigung in Aussicht gestellt. "Die ganz konkrete praktische Frage werden wir ganz schnell, zeitnah bis zur nächsten Woche lösen", sagte der SPD-Politiker. Zuvor hatte SPD-Chef Lars Klingbeil deutlich gemacht, er erwarte, dass das Thema von Scholz, Habeck und Lindner noch im Laufe der Woche - das würde bedeuten, bis zu diesem Sonntag - abgeräumt wird.
Ein deutlich längerer Betrieb von AKW wäre mit der Beschaffung neuer Brennelemente verbunden, das lehnten die Grünen auf dem Parteitag ab. "Bündnis 90/Die Grünen werden im Bundestag keiner gesetzlichen Regelung zustimmen, mit der neue Brennelemente, noch dafür notwendiges neues angereichertes Uran beschafft werden sollen", heißt es im beschlossenen Antrag. Die Parteispitze hatte kurz vor dem Parteitag betont, das Ergebnis der Abstimmung sei für die anstehenden Gespräche mit SPD und FDP bindend.
CDU-Chef Friedrich Merz sagte auf einer CDU-Veranstaltung in Villingen-Schwenningen, die ganze Welt schaue fassungslos auf die Debatte, die man in diesem Lande führe. Alle drei verbliebenen Kernkraftwerke müssten am Netz bleiben. Mit Blick auf die Beschlüsse des Grünen-Parteitags sagte Merz, man sei auf dem Weg, sich "in die Geiselhaft einer grünen Partei zu begeben, die aus rein ideologischen Gründen diesen vernünftigen Weg, den die überwältigende Mehrheit der Menschen in Deutschland für vernünftig hält, blockiert - nur damit der Gründungsmythos dieser Partei unbeschädigt diesen Parteitag überlebt".