GÖTEBORG (dpa-AFX) - Der Prozess um aufsehenerregende Funde am Wrack der 1994 gesunkenen Ostsee-Fähre "Estonia" wird ein Jahr nach dem Freispruch zweier Schweden neu aufgerollt. Ein Berufungsgericht in Göteborg hob das Urteil eines Bezirksgerichts am Dienstag auf und schickte den Fall zur erneuten Prüfung an die Vorinstanz zurück. Die Richter sind der Ansicht, dass der Fall gemäß schwedischem Recht überprüft werden könne - auch wenn die Funde letztlich von einem deutschen Schiff aus gemacht wurden.
Die beiden Schweden - ein Dokumentarfilmer und ein Wrack-Experte - waren im Februar 2021 von dem Vorwurf freigesprochen worden, gegen den über dem "Estonia"-Wrack verhängten Grabfrieden verstoßen zu haben. Mit dem Einsatz eines Tauchroboters und dem Filmen des Wracks hätten sie zwar Handlungen ausgeführt, die nach dem sogenannten Estonia-Gesetz strafbar seien, hatte das Gericht damals geurteilt. Die Angeklagten könnten aber nicht verurteilt werden, weil sie dies von einem unter deutscher Flagge fahrenden Schiff aus in internationalen Gewässern getan hätten.
Demnach ließ sich das Vorgehen nicht nach dem schwedischen Gesetz bestrafen, weil Deutschland eine Grabfriedensvereinbarung anders als Schweden und weitere Ostsee-Anrainer nicht unterzeichnet hatte. Staatsanwältin Helene Gestrin war gegen dieses Urteil in Berufung gegangen.
Die Berufungsrichter sahen die rechtliche Grundlage nun anders als die ebenfalls in Göteborg sitzende Vorinstanz: Sie sind der Ansicht, dass das schwedische sogenannte Estonia-Gesetz sehr wohl in dem Fall Anwendung finden könne. Die Handlungen könnten deshalb gemäß schwedischen Recht geprüft werden - unabhängig davon, ob sie nach deutschem Recht strafbar seien oder nicht. Nicht alle vorgebrachten Einwände seien zudem von der Vorinstanz geprüft worden.
Die "Estonia" war 1994 mit 989 Menschen an Bord auf dem Weg von Tallinn nach Stockholm vor der finnischen Südküste gesunken. 852 Menschen starben, nur 137 überlebten. Weil viele der Toten nicht geborgen werden konnten, steht das Wrack als Ruhestätte unter Schutz und darf nicht aufgesucht werden. Der Untergang gilt als größte Schiffskatastrophe der europäischen Nachkriegszeit.
Warum die "Estonia" sank, konnte bis heute nicht zweifelsfrei geklärt werden. Der Dokumentarfilmer Henrik Evertsson und der Wrack-Experte Linus Andersson waren Teil eines Filmteams, das im September 2019 einen Tauchroboter zum Wrack herabgelassen hatte. Dabei hatten sie unter anderem ein mehrere Meter großes Loch im Schiffsrumpf entdeckt, wie sie später in einer Dokumentation enthüllten. Schweden hatte später gesetzliche Änderungen am Grabfrieden auf den Weg gebracht, damit Behörden die Funde genauer untersuchen können.