- von Sabine Siebold und Klaus-Peter Senger
Berlin (Reuters) - Der Widerstand in der SPD gegen eine Neuauflage der großen Koalition bröckelt.
Etliche SPD-Abgeordnete traten am Mittwoch für Gespräche mit der Union ein, um ein mögliches Bündnis auszuloten. Auch CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer forderte die SPD zu einem Umdenken auf und sprach von der "Schmollenden Partei Deutschland". SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel bekräftigte dagegen im ZDF die Linie der Parteiführung: "Wir sehen im Moment keine Basis für eine große Koalition." Stattdessen sprach er sich für eine Minderheitsregierung aus, um Neuwahlen zu vermeiden. Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen will Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Donnerstag im Gespräch mit SPD-Chef Martin Schulz herausfinden, wie fest das Nein der SPD tatsächlich steht.
Am Mittwoch war CSU-Chef Horst Seehofer ins Schloss Bellevue geladen, mit den Chefs der Grünen und der FDP hatte der Bundespräsident bereits am Dienstag gesprochen. Steinmeier kündigte zudem an, kommenden Woche auch mit den Chefs der anderen Bundestagsfraktionen zu sprechen, also auch der AfD und der Linkspartei. Die Hälfte der Wähler befürwortet einer Umfrage zufolge Neuwahlen.
FDP ODER SPD IN DER PFLICHT?
In allen Parteien wird derzeit überlegt, wie nach dem Abbruch der Jamaika-Sondierungen durch die FDP eine Regierung gebildet werden könnte. SPD-Fraktionsvize Axel Schäfer spielte dabei den Ball ins Lager von CDU/CSU, FDP und Grüne zurück. "Es ist offensichtlich, dass Jamaika einen zweiten Anlauf nehmen muss", sagte Schäfer der Nachrichtenagentur Reuters. CDU-Vize Julia Klöckner kritisierte in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" sowohl FDP als auch SPD für eine Verweigerungshaltung.
Hessens SPD-Chef Schäfer-Gümbel sagte dem MDR dagegen, die Sozialdemokraten scheuten Neuwahlen nicht, verwies aber auf die Möglichkeit einer Minderheitsregierung durch Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Hessen habe 2008 ein Jahr lang eine geschäftsführende Landesregierung gehabt. "Für die Demokratie und das Parlament war das nicht die schlechteste Zeit", sagte der SPD-Politiker. "Wir haben viele kluge Gesetze beschlossen, weil wir über den Inhalt diskutiert haben im hessischen Landtag jenseits von Koalitionsverträgen." Zuvor hatte bereits SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles für eine Minderheitsregierung oder Neuwahlen plädiert.
Auch die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) wehrte Druck auf die SPD ab. Es sei "nicht die SPD, die Deutschland in diese schwierige Situation manövriert hat", sagte Dreyer den Zeitungen der Funke-Mediengruppe.
Zugleich wächst jedoch die Gruppe der SPD-Politiker, die fordern, die Partei müsse ihr kategorisches Nein zu einer großen Koalition aufgeben. Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen stehe die Partei vor einer neuen Situation, schrieb die SPD-Bundestagsabgeordnete Ulla Schmidt auf Facebook (NASDAQ:FB). "Die SPD darf sich deshalb Gesprächen nicht verschließen." Achim Post, Chef der SPD-Landesgruppe Nordrhein-Westfalen im Bundestag, sagte dem "Spiegel": "Parteien und Fraktionen sind in der Pflicht, gerade in einer schwierigen Lage wohlüberlegt Schritt für Schritt vorzugehen." Auch Fraktionsvize Schäfer betonte: "Sicher wird die SPD als demokratische Partei auch mit der Union reden, wenn der Bundespräsident sie dazu auffordert." Allerdings seien die inhaltlichen Differenzen zwischen SPD und Union heute größer als die zwischen den Jamaika-Parteien.
"WIR SIND NICHT IN SKANDINAVIEN"
Die Grünen-Politikerin Claudia Roth appellierte an die SPD, ihre Absage an eine große Koalition zu überdenken. Die Chancen einer Minderheitsregierung beurteilte sie skeptisch. "Eine Minderheitsregierung wäre eine Möglichkeit, aber wir sind nicht in Skandinavien, haben diese Tradition nicht", sagte sie dem Bayerischen Rundfunk. Vor allem in Dänemark sind Regierungen ohne eigene Mehrheit sehr häufig.
In einer Insa-Umfrage für "Bild" sprachen sich 49,9 Prozent der Befragten für Neuwahlen aus. 20 Prozent plädierten für eine Minderheitsregierung. Eine neue große Koalition fänden 18,3 Prozent gut. 48,5 Prozent der Befragten halten es für richtig, dass die SPD eine Neuauflage des Bündnisses mit der Union ausschließt.
Die deutsche Wirtschaft warnt unterdessen vor den Folgen einer langen Hängepartie bei der Regierungsbildung. "Aktuell geht es der deutschen Wirtschaft erfreulicherweise gut", sagte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Eric Schweitzer, dem "Handelsblatt". "Angesichts der schnellen wirtschaftlichen Entwicklung weltweit ist es aber wichtig, dass wir nicht lange ohne handlungsfähige Regierung bleiben." Die Wirtschaft stelle sich jetzt darauf ein, dass sich die Phase der politischen Unwägbarkeiten noch bis ins nächste Jahr hinziehen könne.