- von Andreas Rinke
Berlin (Reuters) - Noch bevor die Spitzen von CDU und CSU am Sonntag in Berlin zusammenkamen, keimte in der Union eine alte Furcht auf.
"Ohne eine Klärung, ob wir auch noch inhaltlich Schwestern sind, können wir nicht in Sondierungsgespräche gehen", sagte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Damit steht das Gespenst von Kreuth von 1976 im Raum, als die CSU in dem oberbayerischen Ort die Aufgabe der Fraktionsgemeinschaft im Bundestag beschloss und Wochen später wieder aufhob.
Am Sonntagabend beendeten die Spitzen von CDU und CSU zwar den Asylstreit mit der Einigung auf ein Migrationspaket und feierten dies. Dennoch gibt es mehrere Gründe, wieso die Spannungen in der Union keineswegs beendet sind, sondern anhalten werden - mindestens bis zur bayerischen Landtagswahl im Herbst 2018.
ANDERE STRATEGISCHE ZIELE
Die strategischen Ziele einer Bundes- und einer Regionalpartei sind völlig unterschiedlich. Differenzen gibt es zudem nicht nur im Redestil, sondern auch im Demokratieverständnis. Das erklärt, warum der bayerische JU-Landesvorsitzende Hans Reichhart auf dem Deutschlandtag der Jungen Union in Dresden von einer "krachenden Niederlage" bei der Bundestagswahl sprach. CDU-Chefin Angela Merkel aber bescheinigte, dass die Union trotz herber Verluste die strategischen Ziele erreicht habe. Denn aus Sicht der CDU und Merkels ist das wichtigste Ziel, dass gegen die Union keine Regierung gebildet werden kann - auch nicht nach zwölf Jahren ununterbrochener Kanzlerschaft. Zudem ist der Abstand zur SPD weiter deutlich, weil die Sozialdemokraten selbst verloren.
Außerdem reicht es Merkel und den allermeisten in der CDU-Spitze in Bund und Ländern, mit wechselnden Koalitionsregierungen an der Macht zu bleiben. Die CDU empfindet sich als klassische Mitte-Partei. Dies ist auch das Motto, das bei jeder Pressekonferenz der CDU-Vorsitzenden auf der Wand hinter ihr steht. Deshalb erscheint es in Merkels Denken logisch, dass sie am Samstag den Einzug der FDP in den Bundestag lobte - obwohl die Union fast so viele Stimmen an die Liberalen wie an die AfD verlor.
CSU DENKT ANDERS
Für die CSU ist eine solche Haltung eine Provokation. Denn für sie ist das oberste Ziel, die absolute Mehrheit bei der Landtagswahl zu verteidigen. Dort wird über die eigentliche Machtbasis einer Partei entschieden, die seit Jahrzehnten ununterbrochen in Bayern regiert - und die nach Ansicht führender CSU-Politiker schon eine Koalitionsregierung mit der FDP auf Landesebene als "Drama" empfindet.
Die Bereitschaft der CDU, mit wechselnden Partnern Koalitionen einzugehen, wird in der CSU als Schwäche empfunden. Und wenn eine neue Partei wie die AfD am rechten Rand auftaucht, will sie die CSU mit einem konservativeren Profil überflüssig machen. "Ich stehe dazu, dass rechts von der Union keine Partei sein sollte", betonte zwar auch Merkel mit Hinweis auf den damaligen CSU-Chef Franz Josef Strauß. Zugleich machte sie die Grenzen deutlich, weil sie für die sehr viel größere CDU nicht die Mitte-Wähler nicht verprellen will: "Franz Josef Strauß, dem ich leider nie begegnet bin, hätte sicher nicht dazu aufgefordert, unsere eigenen Prinzipien zu verraten, um das zu erreichen." Die drei Wurzeln der CDU seien nun einmal konservativ, sozial und liberal.
ANDERE ANALYSE DER FLÜCHTLINGSKRISE
In den vergangenen Tagen wurde erneut deutlich, dass CDU und CSU auch zwei Jahre nach dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise immer noch abweichende Analysen haben, was überhaupt passierte. Innenminister Thomas de Maiziere (CDU) verbat sich den Vorwurf aus der Schwesterpartei, er sei für einen "Unrechtsstaat" verantwortlich. Das zeigt den Frustniveau bis in die oberste CDU-Ebene: Dort wird immer wieder darauf verwiesen, dass der Aufschwung der AfD auch damit zusammenhänge, dass die Regierungspartei CSU über Monate den Eindruck eines "Staatsversagens" geschürt habe. Zur CSU-Forderung nach einer Grenzschließung zu Österreich erklärte Merkel erneut, dass für sie europäisches Recht über deutschem Recht stehe.
Auch hier argumentiert die CSU-Spitze anders: Ein zu weicher Kurs Merkels sei verantwortlich, ihr Offenhalten der Grenzen falsch und gefährlich. Dass etwa die von der CSU geforderten Transitzentren an der Grenze nicht an der CDU, sondern am Koalitionspartner SPD scheiterten und die Einstufung der Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsstaaten an den Grünen, spielt dabei kaum eine Rolle im Denken einer Partei, die in ihrem Bundesland immer praktisch allein entscheiden konnte - und deshalb von der Kanzlerin die Umsetzung von Unionspositionen erwartet.
Das erklärt auch die Bedenken der CSU mit Blick auf eine Jamaika-Koalition. In der Partei gibt es die Sorge, dass die Union ausgerechnet vor der Landtagswahl schmerzhafte Kompromisse eingehen müsste, die die AfD als "Verrat" verkaufen würde. Dagegen steht die klare Forderung Merkels, dass Jamaika nicht an der CSU scheitern dürfe.
Das erklärt die Spannungen in den kommenden Monaten, wenn die CDU möglicherweise zu Kompromissen mit den Grünen bereit sein wird, während die CSU auf einem schärferen konservativeren Profil beharrt. Schon am Montag deutete die Grünen-Kritik am Obergrenzen-Kompromiss darauf hin, dass die Debatte noch lange nicht beendet ist.
SPALTUNG ODER NICHT?
Längst ist in Berlin deshalb kaum noch von Schwesterparteien, sondern eher von einer Sondierung der Unionsparteien die Rede. Aber den endgültigen Schritt zu Kreuth wagt zurzeit niemand: Denn dies würde letztlich die CSU-Ausweitung auf das Bundesgebiet und die Gründung eines 16. CDU-Landesverbandes in Bayern bedeuten. Aber Merkel bezweifelt, dass das Antreten von zwei C-Parteien in allen Bundesländern die Union wirklich stärken würde und warnte in Dresden vor der Spaltung. Die CDU-Spitze hatte bereits in den vergangenen Monaten Versuche von frustrierten CSU-Anhängern abgeblockt, in Bayern einen CDU-Landesverband zu gründen.
CSU-Chef Horst Seehofer wiederum weiß, dass seine Partei die absolute Mehrheit verlieren würde, sollte die CDU 2018 in Bayern antreten. Die Schwesterparteien müssten sich im Wahlkampf gegeneinander profilieren. Allerdings wird zumindest in der CDU hinter vorgehaltener Hand darauf verwiesen, dass man sich kaum mehr schaden könne als dies im Streit über die Flüchtlingspolitik der Fall gewesen sei. Scheitert Jamaika tatsächlich, könnte es also zur Neuauflage der Debatte kommen.