Berlin/Passau (Reuters) - Der Sondierungskompromiss mit der Union treibt einen Keil in die SPD.
Eine Woche vor dem richtungsweisenden Parteitag forderten führende Sozialdemokraten am Wochenende Nachbesserungen an den Vereinbarungen. Die SPD-Linke stemmt sich mit aller Kraft gegen eine Neuauflage der großen Koalition - und schaffte in Sachsen-Anhalt einen Etappensieg: Die Mehrheit der Delegierten eines Landesparteitags stimmte gegen formelle Koalitionverhandlungen mit CDU und CSU. Die Union rief die SPD zur Vernunft auf.
"Ich sehe das sehr kritisch", sagte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) dem "Tagesspiegel" (Sonntagausgabe) zur Aussicht auf eine erneute Regierung mit der Union. Die Sondierungsergebnisse seien eine Grundlage für weitere Gespräche. "Mehr aber auch nicht", betonte der amtierende Bundesratspräsident, der Neuwahlen nicht ausschließt. Es gebe zwar gute Ansätze, etwa in der Bildungspolitik. "Bei Wohnen, Zuwanderung und Integration geht es so nicht", sagte das Mitglied des SPD-Vorstands: "Die Bürgerversicherung fehlt ganz. Viel zu tun also."
Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer brachte erneut eine Minderheitsregierung der Union ins Spiel. Zwar sei sie nach den Sondierungen optimistisch, "dass wir als SPD etwas wirklich Gutes für die Menschen erreichen können", sagte die Vize-Parteichefin im gleichen Blatt. Sie sei aber der Meinung, "dass es gute Gründe für eine Minderheitsregierung gibt". Davor warnte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. "Sie ist verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen", sagte das Staatsoberhaupt dem "Focus": "Ob sie in der gegenwärtigen Lage Europas der geeignete Beitrag zur Überwindung der europäischen Krise ist, wird zu Recht diskutiert." Kommt keine Koalition zustande, muss Steinmeier entscheiden, ob er einen Minderheitskanzler ernennt oder Neuwahlen ansetzt
SPD-Chef Martin Schulz äußerte Verständnis für die Kritiker einer neuen großen Koalition. "Ich kann die Skeptiker in unseren Reihen gut verstehen, ich selbst habe große Zweifel angemeldet und war wie die allermeisten von einer Jamaika-Koalition ausgegangen", sagte er der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung": "So wie ich selbst werden die Delegierten auf dem SPD-Parteitag nur durch Inhalte zu überzeugen sein." Als wichtigste Erfolge seiner Partei nannte Schulz neben der Europapolitik die Festschreibung des Rentenniveaus auf 48 Prozent, die paritätische Finanzierung der Krankenversicherung, massive Investitionen und die Aufhebung des Kooperationsverbots von Bund und Kommunen in der Bildungspolitik
Die GroKo-Gegner in der SPD feierten allerdings in Sachsen-Anhalt einen ersten Sieg: Beim Landesparteitag in Wernigerode wurde eine große Koalition mit 52 zu 51 Stimmen abgelehnt. Der Einfluss der Landespartei ist aber klein: Beim Sonderparteitag am 21. Januar stellt sie nur sechs der 600 Delegierten. Am Freitag hatten sich die Spitzen von CDU, CSU und SPD darauf verständigt, Koalitionsverhandlungen aufnehmen zu wollen. Auf dem Sonderparteitag stimmen die Sozialdemokraten über die Aufnahme von Verhandlungen ab. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat als Ziel ausgegeben, bis Ostern eine neue Regierung zu bilden.
Der Vorsitzende der SPD-Nachwuchsorganisation Jusos, Kevin Kühnert, kündigte bis zum Parteitag eine "No-GroKo"-Tour in der Partei an. "Der Spitzensteuersatz wird nicht erhöht, es gibt faktisch eine Obergrenze für Flüchtlinge, die Lösung zum Familiennachzug ist enttäuschend", begründete er in der "Welt" (Samstagausgabe) seinen Widerstand. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil hielt auf einer Veranstaltung in Passau dagegen: 55 Punkte sollten einem Parteitagsantrag zufolge durchgesetzt werden: "47 davon haben wir in den Sondierungen erreicht."
"NATÜRLICH GILT ALLES"
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt rief Schulz auf, die interne Kritik an den Sondierungsergebnissen zu beenden. "Martin Schulz muss jetzt zeigen, dass die SPD ein verlässlicher Koalitionspartner sein kann und er den Zwergenaufstand in den Griff bekommt", sagte er der "Bild am Sonntag". Bayerns Finanzminister und designierter Ministerpräsident Markus Söder lehnt Nachbesserungen ab: "Natürlich gilt alles. Die von allen Delegationen einstimmig beschlossene Sondierungsvereinbarung ist mit 28 Seiten doch fast schon ein Koalitionsvertrag."
In der Bevölkerung stößt die GroKo auf große Vorbehalte. 52 Prozent halten sie für "weniger gut" oder "schlecht", ergab eine Umfrage von Infratest Dimap für die "Welt am Sonntag". Nur drei Prozent halten demnach eine große Koalition für "sehr gut", 37 Prozent für "gut". Gleichzeitig fordern aber auch 60 Prozent, dass der SPD-Parteitag den Weg für Verhandlungen frei machen sollte, so eine Emnid-Umfrage für die "Bild am Sonntag".
In der Wählergunst legen Union und SPD, aber auch die AfD, zu. CDU/CSU hätten gegenüber der Vorwoche ebenso einen Prozentpunkt gewonnen wie die Sozialdemokraten, berichtete "Bild am Sonntag" unter Berufung auf den Sonntagstrend des Instituts Emnid. Die Union kommt derzeit auf 34 und die SPD auf 21 Prozent. Die AfD legte einen Punkt auf 13 Prozent zu. Die Linke erreicht wie in der Vorwoche neun Prozent, während Grüne und FDP je einen Punkt verlieren auf elf beziehungsweise acht Prozent.