- von Andreas Rinke und Holger Hansen
Berlin (Reuters) - Nach der Verhaftung eines deutschen Menschenrechtlers in der Türkei verschärft die Bundesregierung ihre Gangart.
Das Auswärtige Amt bestellte am Mittwoch den türkischen Botschafter ein und forderte die unverzügliche Freilassung von Peter Steudtner. Außenminister Sigmar Gabriel unterbrach seinen Urlaub, um das weitere Vorgehen abzusprechen. Die Opposition und auch SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz verlangte, Finanzhilfen für den Nato-Partner einzustellen. Einem Medienbericht zufolge hat die türkische Regierung die Vorwürfe angeblicher Terrorunterstützung auch auf deutsche Unternehmen ausgeweitet.
"Dem türkischen Botschafter wurde klipp und klar gesagt, dass die Verhaftung von Peter Steudtner und anderen Menschenrechtsaktivisten nicht nachvollziehbar und auch nicht akzeptabel und schon gar nicht vermittelbar ist", erklärte der Sprecher des Auswärtigen Amtes. Die gegen Steudtner erhobenen Terrorismusvorwürfe seien an den Haaren herbeigezogen. Der Deutsche wurde am 5. Juli zusammen mit der Chefin von Amnesty International in der Türkei sowie weiteren Menschenrechtlern bei einer Schulung festgenommen. Am Dienstag wurde gegen ihn und weitere fünf Mitglieder der Gruppe Untersuchungshaft wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verhängt.
BUNDESREGIERUNG POCHT AUF ZÜGIGE FREILASSUNG
Anders als bei vorangegangenen Krisen erhöht die Bundesregierung nun den Druck. "Der türkische Botschafter weiß nun, dass es uns ernst ist und diese Angelegenheiten nicht auf die lange Bank geschoben werden können", sagte Außenamtssprecher Martin Schäfer. Das Vorgehen gegen Menschenrechtsorganisationen sei eine "dramatische Verschärfung".
Die Bundesregierung hatte in der Vergangenheit scharfe Stellungnahmen vermieden. So lehnte sie Forderungen ab, nach der Absage eines Besuches von Bundestagsabgeordneten auf dem türkischen Nato-Stützpunkt Konya die dort stationierten Bundeswehrsoldaten abzuziehen. Auch im Fall der in Incirlik stationierten Soldaten entschied sich die Regierung in Berlin erst nach monatelangem Tauziehen für einen Abzug.
Die türkische Regierung wirft ihrerseits Deutschland vor, Anhängern des Predigers Fethullah Gülen Asyl zu gewähren. Der im US-Exil lebende Gülen ist aus Sicht von Präsident Recep Tayyip Erdogan der Drahtzieher des vor einem Jahr gescheiterten Militärputsches. Gülen bestreitet das. Die türkischen Sicherheitsbehörden haben mittlerweile rund 200.000 Menschen festgenommen oder aus dem Staatsdienst entlassen, weil sie angeblich zu den Unterstützern Gülens zählen.
Die Behörden machen auch vor ausländischen Bürgern nicht Halt. Zu den nach dem Putschversuch Inhaftierten zählen nach Angaben des Auswärtigen Amtes neun Deutsche, davon vier Doppelstaatler, die auch die türkische Staatsbürgerschaft besitzen. Der bekannteste Fall ist der "Welt"-Korrespondent Deniz Yücel.
"ZEIT": AUCH DEUTSCHE UNTERNEHMEN WERDEN VERDÄCHTIGT
Der Wochenzeitung "Zeit" zufolge werfen türkische Behörden inzwischen auch deutschen Unternehmen vor, terroristische Organisationen zu unterstützen. Eine Liste mit insgesamt 68 Unternehmen wie BASF (DE:BASFN) oder Daimler (DE:DAIGn) und Einzelpersonen wurde demnach dem Bundeskriminalamt übergeben. BASF erklärte, man habe vom BKA offiziell erfahren, auf der Liste zu stehen. Daimler dagegen erklärte, man kenne diese Liste nicht. Der "Zeit" zufolge werden die Vorwürfe in Berliner Regierungskreisen als absurd und lächerlich gewertet.
SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz forderte angesichts des Konfliktes einen Stopp der finanziellen EU-Hilfen für die Türkei. Diese seien sinnlos, wenn es gleichzeitig eine offene Konfrontation zwischen der türkischen Regierung und Deutschland gebe. SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann erklärte, Erdogan führe die Türkei in eine Willkürherrschaft. Kanzlerin Angela Merkel warf er vor, keine Strategie für den Umgang mit dem Staatschef zu haben.
Linkspartei-Chefin Katja Kipping forderte die Bundesregierung auf, die Zollunion zwischen der Türkei und der EU infrage zu stellen. Das Land sei auf dem Weg in eine "islamistische Diktatur". Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner forderte, die Handelsbeziehungen zur Türkei zunächst nicht weiter auszubauen.