Wer am Finanzmarkt Erfolg haben möchte, darf nie denken, alles zu wissen. Noch gefährlicher ist aber, alles einseitig zu betrachten – schließlich gibt es auf beiden Seiten immer gute Argumente. In diesem Artikel führe ich Argumente für einen potenziellen Bullenmarkt an. Das bedeutet nicht, dass dies eine persönliche Meinung darstellt – persönliche Meinungen haben in wissenschaftlichen Diskursen keinen Platz. In den nächsten Wochen werde ich zudem noch einen Artikel veröffentlichen, in welchem die Gegenseite beleuchtet wird, also warum wir in einen Bärenmarkt verfallen könnten. Beide Seiten haben tragbare Ansätze.
Im Falle des theoretischen Bullenmarktes, nehmen wir uns mal den LRAS-Chart zur Brust. In der unteren Grafik sehen Sie zwei vertikale Linien, die LRAS 1 und 2 heißen, was Long-Run Aggregate Supply bedeutet. Diese Linie definiert, was im Allgemeinen nachhaltig als wirtschaftliches Potenzial eines Landes produziert werden kann, also praktisch das langfristig tragbare Potenzial des Bruttoinlandprodukts. Vertikal ist diese, weil man ja nicht natürlicherweise davon ausgehen kann, dass sich ein Land weiterentwickelt. Auf dieser Linie dann schneiden sich SRAS 1 (Short-Run Aggregate Supply, dt.: kurzfristiges Gesamtangebot) und AD 1 (Aggregate Demand, dt.: Gesamtnachfrage). Diese Schnittstelle, gekennzeichnet mit dem gelben A, ist das übergeordnete Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage, wobei es auf kurzfristiger Basis zu Schwankungen kommen kann. Kommt es zur Verknappung vom Angebot, steigen die Preise. Gibt es einen Überschuss, sinken die Preise – das kennt man.
Das Argument ist aber hier, dass wir aktuell eine Verschiebung der LRAS-Linie erleben könnten. Mit der Verbreitung von künstlicher Intelligenz etabliert sich aktuell eine Technologie auf dem Markt, die nicht nur Arbeitsplätze überflüssig macht, sondern auch Prozesse schneller abarbeitet und damit ein höheres Volumen aufbringt, wohlgemerkt ohne Kaffeepausen und Schlaf. Zwar ist die Technologie noch immer in den Kinderschuhen, aber mit der weiteren Entwicklung birgt sie das Potenzial, die potenzielle Wirtschaftsleistung im Allgemeinen massiv zu erhöhen. Damit schiebt sich die LRAS-Linie von 1 zu 2, da das nachhaltige Produktionsniveau deutlich höher ist. Zudem darf man nicht vergessen, dass die Weltwirtschaft in eine Phase der Diversifizierung übergeht. Somit betreten immer mehr qualitative Akteure den Markt. China ist längst Technologieentwickler und nicht mehr nur Nachmacher. Die Türkei hat eine starke Rüstungsindustrie aufgebaut. Indien exportiert immer mehr Agrarprodukte und Saudi-Arabien investiert in Innovationen, wo es nur geht. Das tut der Weltwirtschaft gut, da ein erhöhter Wettbewerb aufkommt und dies wiederum das Potenzial der einzelnen Wirtschaftszonen herauskitzelt.
Nun wird man aber sagen: „Moment mal, bei dem gelben B sind wir dann doch aber auf demselben Preisniveau“. Stimmt, aber weder steckt die LRAS-Linie schon das Ziel der Entwicklung ab, noch arbeitet die Weltwirtschaft aktuell auf diesem neuen Potenzial. Da wir noch in der Adaptationsphase sind, befinden wir uns in der derzeitigen Lage irgendwo um den Punkt C, wenn denn diese Argumentation die Wahrheit sein sollte. In dieser Konstellation ist die Angebotskurve weiterhin unverändert und wir haben eine erhöhte Nachfrage. Das deckt sich natürlich auch mit der expansiven Geldpolitik der letzten Jahre, die Nachfragestimuli generiert hat. Da aber das Angebot nicht bedient wurde, kam es zu Lieferengpässen und erhöhten Preisen, was diese Grafik eben abbildet. Sollte dies also stimmen, wird es mit einer Bedienung der Angebotsseite zu mehr Produktion kommen, um die Nachfrage zu decken und wir finden uns erst dann bei Punkt B ein. Dort herrscht nicht nur wieder Preisstabilität, sondern auch ein größeres Wirtschaftsvolumen, weil sich Angebot und Nachfrage auf der LRAS 2-Linie treffen und hier mehr Produktivität geleistet wird.
Die Kapitalmärkte können auf diese Entwicklung unterschiedlich reagieren. In der aktuellen Erholungsphase scheinen sie positiv auf die Bewegungen in Richtung Punkt C reagiert zu haben. Mit dem preislichen Abstieg in Richtung B könnte es zu kurzzeitigen Korrekturen kommen, aber einmal um B herum angelangt, müssen auch die Kurse auf ihr neues Potenzial ziehen, sprich: massive neue Allzeithochs können hier zu erwarten sein. Eine andere Reaktion wäre, dass die Kurse direkt durch zu ihren neuen Allzeithochs marschieren und sich schon frühzeitig auf ihr neues Potenzial einpendeln. So ist zumindest die Argumentationslage, wenn wir aus der Bullenbrille auf die Märkte und die Weltwirtschaft schauen. Allerdings gibt es ebenso gute Argumente, die dagegensprechen und eher einen Bärenmarkt unterstützen. Welcher Ansatz am Ende die Realität abbildet, ist für einen informierten Diskurs unerheblich. Wichtig ist, dass man beide Seiten objektiv bewerten kann, um dann im Detail zu schauen, welcher Ansatz die Nase vorn hat – und das gilt sicherlich nicht nur für die Wirtschaftswissenschaft.
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