Atomenergieaktien und Automobilwerte scheuen die Anleger derzeit wie der Teufel das Weihwasser. Schon vor einer Woche hatten wir Sie auf dieses aktuelle Verhalten hingewiesen (siehe „Atomenergie- und Automobilaktien massiv unter Druck – Märkte neigen zur Übertreibung“). Dabei beschrieben wir auch ein typisches Börsenphänomen, wonach die Märkte häufig zur Übertreibung neigen.
Hohe Kursverluste führen zu günstiger Bewertung
Am Beispiel des Automobilzulieferers SHW AG zeigten wir auf, dass im Zuge der derzeit sehr negativen Stimmung bezüglich dieses Industriezweigs der aktuelle Börsenwert der SHW-Aktie weit unterhalb einer fairen Bewertung gefallen ist (siehe „SHW AG – Im Panik-Modus nach negativem Analystenkommentar“). Zudem kündigten wir an, mit E.ON auch ein Beispiel für Atomenergieaktien zu haben. Werfen wir also nun den Blick auf die Zahlen, Daten und Fakten von E.ON:
Kurscrash wegen Spekulationen um Höhe der Rückstellungen
Die in den vergangenen Wochen, Monaten und Jahren ohnehin schon stark gebeutelten Aktien von Atomkraftwerk-Betreibern wie RWE und E.ON litten jüngst unter neuen Spekulationen über zusätzliche Milliardenlasten durch den Atomausstieg. Nach Berechnung der „Rheinischen Post“ droht E.ON eine weitere Rückstellung von 9 bis 12 Milliarden Euro (4,70 bis 6,30 Euro je Aktie) und RWE von 7,5 bis 10 Milliarden Euro (12 bis 16 Euro). Spiegel Online berichtet, dass den vier großen Versorgern Rückstellungen von bis zu 30 Milliarden Euro fehlten. Das sei das Ergebnis eines Gutachtens, das Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel in Auftrag gegeben hatte.
Bundesregierung dementiert genannte Horrorzahlen
Das Bundeswirtschaftsministerium hat diesen Bericht dementiert: „Das BMWI kennt keine der genannten Zahlen“, teilte das Ministerium mit. Anfang Juli gab die Bundesregierung bei Düsseldorfer Wirtschaftsprüfern einen „Stresstest“ in Auftrag, um die Tragfähigkeit dieser Rückstellungen zu ermitteln. Ein Ergebnis des Stresstests zur Angemessenheit der Rückstellungen der Konzerne liege noch nicht vor und werde erst im Herbst erwartet.
E.ON und RWE gehen von ausreichenden Rückstellungen aus
E.ON und RWE gehen weiter davon aus, dass ihre Rückstellungen für den Abriss der Kernkraftwerke und die Entsorgung des atomaren Mülls ausreichen. Die Versorger haben bislang Rückstellungen in Höhe von insgesamt 38,6 Milliarden Euro gebildet. Dabei entfallen auf E.ON 16,6 Milliarden Euro, auf RWE 10,4 Milliarden, auf EnBW 8,1 Milliarden und auf Vattenfall etwa 3,5 Milliarden Euro.
E.ON büßt ein Drittel an Börsenwert ein
Wer nun Recht hat und welche Zahlen stimmen, lässt sich nicht sagen. In jedem Fall ließen sich die Anleger von den Medienberichten verunsichern und warfen ihre Aktien auf den Markt. Die Aktien von E.ON fielen aus ihrer Seitwärtsrange (blaues Rechteck im Chart) heraus und brachen alleine vom 17. bis 24. August binnen einer Woche um fast 18 Prozent ein (oberes rotes Rechteck). Am 9. September begann der nächste Kursrutsch – innerhalb von 5 Handelstagen rutschte der Kurs noch einmal um bis zu 24,6 Prozent ab (unteres rotes Rechteck).
Insgesamt sank der Börsenwert des E.ON-Konzerns seit dem 17. August von 23,4 Mrd. Euro auf aktuell rund 15 Mrd. Euro. Die Aktien büßten damit insgesamt rund 8,4 Mrd. Euro an Marktkapitalisierung ein.
Im Worst-Case-Szenario wären die Kursverluste angemessen
Sollten E.ON tatsächlich, wie von der „Rheinischen Post“ behauptet, 9 bis 12 Mrd. Euro an Rückstellungen fehlen, dann wäre ein Wertverlust von 8,4 Mrd. Euro eventuell angemessen. Zumal E.ON für das Gesamtjahr 2015 ursprünglich einen Konzernüberschuss zwischen 1,4 und 1,8 Milliarden Euro erwartet und insofern 5 bis 8,5 Jahre den gesamten Gewinn in die Rückstellungen einstellen müsste, um die Lücke zu schließen. Allerdings teilte der Konzern Anfang September mit, weitere Milliarden-Abschreibungen auf Kohle- und Gaskraftwerke vornehmen zu müssen. Für das laufende Quartal ergebe sich ein voraussichtlicher Wertberichtigungsbedarf im höheren einstelligen Milliarden-Euro-Bereich. Ursache seien unter anderem die anhaltend niedrigen Großhandelspreise für Strom. Entsprechend dürften die Gewinnziele zumindest für dieses Jahr hinfällig sein.
Kommt es besser als befürchtet, wäre die Aktie extrem günstig zu haben
Sollte jedoch E.ON Recht behalten und die bisher gebildeten Rückstellungen in Höhe von 16,6 Mrd. Euro ausreichend sein, dann wäre die Aktie nun fundamental extrem günstig bewertet. Beim Kurs-Umsatz-Verhältnis (KUV) errechnet sich zum Beispiel ein Wert von lediglich 0,13 (15 Mrd. Euro Marktkapitalisierung geteilt durch geschätzt rund 115 Mrd. Euro Jahresumsatz). Zudem bestätigte E.ON die bisherige Dividendenpolitik. Der Konzern will wie geplant 50 Cent je Aktie für das laufende Jahr auszahlen. Beim aktuellen Kurs von ca. 7,50 Euro errechnet sich eine Dividendenrendite von stolzen 6,7 Prozent.
Fazit
Die Stimmung ist bezüglich der E.ON-Aktien also derzeit sehr schlecht und der Pessimismus wurde zuletzt von immer neuen Meldungen weiter angeheizt. Doch hierbei handelt es sich um unbestätigte Zahlen. Angesichts der sehr günstigen fundamentalen Bewertung der E.ON-Aktien dürfte sich der Kurs deutlich erholen, sollten sich die genannten Zahlen als falsch herausstellen und die Rückstellungen ausreichend sein oder die zusätzlich zu bildenden Rückstellungen geringer ausfallen als befürchtet.
Analysteneinschätzungen – Kurspotential zwischen 65 und 126 Prozent
Zu positiven Einschätzungen kamen auch einige Analystenhäuser – allerdings vor der Unternehmensmeldung über weitere Milliardenabschreibungen. In einer aktuellen Branchenstudie hat das US-Analysehaus Bernstein Research die kriselnden deutschen Energieversorger unter die Lupe genommen. Zwar wurde das Kursziel für die E.ON-Aktie von 16,90 auf 16,40 Euro gesenkt, ausgehend vom aktuellen Kursniveau wird dem Konzern damit aber immer noch ein Kurspotenzial von fast 120 Prozent (!) zugetraut. Für die Experten bleibe der Titel daher nicht nur ein Kauf, sondern auch einer ihrer „Top Picks“ in diesem Sektor.
Auch die Investmentbank Goldman Sachs stellte E.ON kürzlich unverändert als "klaren Kauf" (Conviction Buy) heraus, hat das Kursziel aber von 20 auf 17 Euro gesenkt. Merrill Lynch und Societe Generale (PARIS:SOGN) haben trotz der gescheiterten Ausgliederung des Atomgeschäfts ein Kursziel von 12,40 bzw. 13,50 Euro ermittelt.
Entsprechend sehen die Experten ein Kurspotential zwischen 65 und 126 Prozent. Dem schließe ich mich an. Natürlich sollte man aber die weitere Diskussion um die Rückstellungen genau verfolgen, auf das Ergebnis des „Stresstest“ lauern und dann entsprechend reagieren.
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Geldanlage
Sven Weisenhaus
(Quelle: Geldanlage-Brief, Ausgabe vom 23.09.2015)
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