(nach Videotreffen der EU-Agrarminister aktualisiert)
BRÜSSEL (dpa-AFX) - Verschiedene Hilfsorganisationen und Verbände warnen vor den Folgen des russischen Kriegs gegen die Ukraine für die Lebensmittelproduktion. Während für die EU derzeit vor allem steigende Kosten erwartet werden, könnten die Auswirkungen für Länder südlich der Union weitaus dramatischer werden. Denn mehr als die Hälfte der Nahrungsmittel, die das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) in Krisenregionen verteilt, stammt eigenen Angaben zufolge aus der Ukraine.
Bundesagrarminister Cem Özdemir (Grüne) sagte anlässlich einer Videokonferenz mit seinen Amtskollegen der anderen EU-Länder am Mittwoch, er werde alles mögliche tun, um die Lebensmittelversorgung in der Ukraine zu unterstützen. Auch der Vorsitzende der Konferenz, der französische Agrarminister Julien Denormandie, sagte nach dem Austausch Unterstützung für die Ukraine zu.
"Putins Krieg überzieht nicht nur die Ukraine mit unermesslichem Leid. Die Auswirkungen werden weit über die Grenzen der Region zu spüren sein", sagte der Direktor des WFP in Deutschland, Martin Frick. Das WFP ist in mehr als 80 Ländern aktiv. Schon jetzt seien knapp 280 Millionen Menschen von akutem Hunger betroffen. Die Welt könne sich keinen weiteren Konflikt leisten.
Auch für die Europäische Union ist die Ukraine ein wichtiger Partner im Agrarhandel. "Die Ukraine ist der viertgrößte externe Lebensmittellieferant der EU und beliefert die EU mit einem Viertel ihrer Getreide- und Pflanzenölimporte", teilte der europäische Bauernverband Copa Cogeca mit. In wenigen Tagen beginne die Frühjahrsaussaat, überschattet von den Militäraktionen auf ukrainischem Gebiet. Dies werde sich stark auf die Ernte im Sommer auswirken.
Schon jetzt sei Stickstoffdünger sehr teuer und knapp, teilte der Deutsche Bauernverband kürzlich mit. Der für Landwirte wichtige Stickstoffdünger wird aus Erdgas hergestellt - sollten also die Gaspreise durch die Eskalation noch weiter steigen, würde das auch die Kosten für Bäuerinnen und Bauern in die Höhe treiben. Das Bundeslandwirtschaftsministerium teilte mit, dass teurere Lebensmitteln nicht auszuschließen seien. Auch Copa Cogeca hält höhere Preise für möglich.
Für Deutschland und die EU rechnen die Verbände und Experten nach derzeitigem Stand aber nicht mit Engpässen bei Lebensmitteln. "Aus der gegenwärtigen furchtbaren Situation der Kriegshandlungen in der Ukraine eine unmittelbare Versorgungskrise abzuleiten, würde viel zu weit übers Ziel hinausschießen", so etwa Martin Banse, Agrarexperte und Chef des Thünen-Instituts für Marktanalyse.
Das Bundeslandwirtschaftsministerium teilt die Auffassung, dass vor allem Länder in Nordafrika und Asien sowie die Türkei als Hauptimporteure betroffen sein könnten. Ministeriumsangaben zufolge erzeugt Russland etwa zehn Prozent des Weizens weltweit, aus der Ukraine kommen vier Prozent.
Für Länder in Afrika und Westasien hat der Weizenimport eine große Bedeutung. So waren die Kosten für Lebensmittel etwa ein wichtiger Faktor im sogenannten Arabischen Frühling, eine Serie von Massenprotesten. "Die soziale Stabilität in diesen Ländern hängt vom Brotpreis ab", sagt Banse.
Ägypten - mit mehr als 100 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land der arabischen Welt - importiert einen großen Teil seines Weizens aus Russland und der Ukraine. Gleiches gilt für Tunesien. Dort sind vor allem arme Menschen dringend auf Brot angewiesen. Experten in Tunesien warnen bereits vor heftigen Preissteigerungen wegen des Krieges. Künftig könnte zwar Getreide etwa aus Argentinien oder Rumänien kommen - aber ob das reicht, ist unklar. Andere Staaten in Westasien stehen vor ähnlichen Problemen.
Die Türkei kaufte 2020 rund 65 Prozent ihres Weizens aus Russland. Eine Verschlechterung der Beziehungen zu Moskau könnte die Einfuhren verteuern. Wenn nun etwa erneut die Brotpreise steigen - die Türkei leidet gerade unter einer besonders hohen Inflation - könnte das auch den Ärger gegen die Regierung des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan weiter befeuern.
Kurzfristig kann eine mögliche Versorgungslücke laut Agrarexperte Banse nicht von der EU geschlossen werden. Sie sei zwar lange ein wichtiger Lieferant von Weizen für diese Länder gewesen, aber dann von der Ukraine und Russland aus dem Markt gedrängt worden. Zudem seien die Speicher in der EU nicht besonders gut gefüllt. "Die Lager sind zurzeit, ich will nicht sagen leer, aber ziemlich leer, so dass hier Europa kurzfristig nicht so schnell in die Bresche springen kann", betont Banse.