FRANKFURT (DEUTSCHE-BOERSE AG) - 20. Juli 2012. Die Aktienkurse entwickeln sich gegenläufig zu der Konjunktur. Martin Hüfner liefert mögliche Erklärungsansätze.
Die Aktienkurse steigen, die Konjunktur geht in den Keller. Das passt nicht zusammen. Und trotzdem passiert es in diesen Wochen. Normalerweise nimmt man an, dass bei schlechterer Konjunktur die Gewinne der Unternehmen nachgeben und dass sich dies dann in niedrigeren Aktienkursen zeigt. Diesmal ist es aber ganz anders. Seit Mai verdüstert sich die Stimmung in den deutschen Unternehmen. Der ifo-Index, der das erfahrungsgemäß recht gut widerspiegelt, geht zurück. Die Aktienkurse sind dem zunächst gefolgt. Der DAX ist nach dem furiosen Auftakt zu Beginn des Jahres gefallen. Die Welt schien in Ordnung. Seit Juni gehen die Kurse aber wieder deutlich nach oben. Was ist los?
Theoretisch könnte man annehmen, dass wir die Konjunktur falsch messen. Die Konjunkturindikatoren hinken bekanntlich der tatsächlichen Entwicklung hinterher. Sie können nicht (oder nur schlecht) erfassen, wenn sich die Wirtschaftsentwicklung im zweiten Halbjahr wieder beschleunigen sollte. Der Aktienmarkt schaut dagegen normalerweise weiter in die Zukunft. Es könnte also sein, dass der jüngste Anstieg der Aktienkurse ein Signal ist für eine günstigere Entwicklung in Zukunft.
Tatsächlich gibt es einige, die im zweiten Halbjahr wieder mit mehr Wachstum rechnen. Das zweite Vierteljahr - so ihre Argumentation - war aufgrund von Lagerbewegungen ein Ausreißer nach unten. Im dritten und vierten Quartal wird es wieder nach oben gehen. Nicht nur die Läger müssen aufgestockt werden. Es wirken sich auch die geldpolitischen Lockerungen aus, die in den letzten Wochen in einer Reihe von Staaten ergriffen worden waren. China wird alles tun, um ein weiteres Absacken seiner Wachstumsrate zu verhindern. Wenn die Konjunktur dann wieder anzieht, werden auch die Aktienkurse weiter nach oben gehen.
Ich glaube das nicht. Ich bleibe nach wie vor skeptisch gegenüber der Konjunktur. Aus meiner Sicht hat der Anstieg der Aktienkurse einen anderen Grund: Das ist die Lockerung der monetären Bedingungen. Es ist mehr Geld in der Wirtschaft, die Zinsen sind gesunken. Damit haben die Investoren mehr Liquidität in der Tasche und sie müssen dafür Anlagen suchen. Zudem sind die Zinsen so unattraktiv geworden, dass die Chancen am Aktienmarkt in einem besseren Licht erscheinen. Schließlich gibt es durch die hohe Liquidität und die niedrigen Zinsen Inflationsbefürchtungen, die ebenfalls für eine Anlage in Sachwerten sprechen. Die Rohstoffpreise sind in den letzten Wochen bereits in Bewegung geraten.
Ein gutes Maß für die Liquiditätsentwicklung am Aktienmarkt ist die Geldmenge M1. Sie erfasst das Bargeld und die Sichteinlagen in einer Wirtschaft. Sie hat traditionell einen recht guten Vorlauf zu den Aktienkursen. In der Grafik habe ich die Veränderung von M1 der Entwicklung des DAX seit Anfang vorigen Jahres gegenübergestellt. Es zeigt sich, dass die Wachstumsrate von M1 in der ersten Hälfte 2011 zuerst deutlich zurückgegangen ist. Das war die Zeit, als die Europäische Zentralbank begann, die geldpolitischen Zügel anzuziehen. Die Aktienkurse haben auf die Abnahme der M1-Wachstumsraten mit einem deutlichen Absturz im August (das heißt mit einer entsprechenden zeitlichen Verzögerung) reagiert.
Ab Juli letzten Jahres haben sich die monetären Bedingungen aber verbessert. M1 wuchs schneller. Darauf
hat der Aktienmarkt seit September mit Kurssteigerungen reagiert. Im Mai 2012 schließlich hat M1 dann noch einmal einen deutlichen Satz nach oben gemacht (vielleicht ist das der Reflex auf den letzten großen Liquiditätsschub der EZB). Das müsste sich in den nächsten Monaten in einer weiteren Steigerung der Aktienkurse widerspiegeln.
Natürlich weiß niemand, wie sich die monetären Bedingungen im weiteren Verlauf des Jahres entwickeln werden. Viel spricht aber für einen weiter expansiven Kurs. In Europa könnte es möglicherweise zu einer weiteren Leitzinssenkung kommen. Manche erwarten auch quantitative Impulse zum Beispiel durch neue längerfristige Repogeschäfte. Einen Strich durch die Rechnung machen könnte nur, wenn die Rohstoffpreise - vor allem die Nahrungsmittelpreise - stärker steigen würden und die Zentralbank dann in einen Konflikt mit dem Ziel der Geldwertstabilität käme. Wenn das nicht passiert, dann sind auch die Aussichten für den Aktienmarkt gut.
Über eines muss man sich freilich klar sein: Die Aktienkursentwicklung ist allein monetär getrieben. Sie ist nicht fundamental durch eine gute wirtschaftliche Entwicklung und steigende Gewinne abgesichert. Es ist eine Liquiditätshausse. Das ist nicht ungefährlich. Wenn sich die monetären Bedingungen verschlechtern sollten (und eines Tages muss das zwangsläufig der Fall sein, wenn es nicht zu einer größeren Inflation kommen soll), dann wird sich dies schnell auch in den Aktienkursen zeigen.
Für den Anleger
Die gute Nachricht ist, dass die Aussichten für die Aktienkurse im zweiten Halbjahr gut sind. Es ist durchaus noch ein Anstieg des DAX von 10 oder 15 Prozent möglich. Die schlechte Nachricht ist, dass die Entwicklung nicht sauber ist, weil sie lediglich auf den monetären Verbesserungen beruht. Sie kann also mit erheblichen Schwankungen verbunden sein. Zudem ist zu beachten, dass der deutsche Aktienmarkt bei einem Indexniveau von 8.000 einen Deckel nach oben hat. Dieses Niveau wurde sowohl im Jahr 2000 als auch in 2007 und 2011 jeweils ganz oder fast erreicht. Es wurde bisher aber nie überschritten. Auch jetzt werden die Investoren wieder nervös werden, wenn sich der Index dieser Marke nähert. Vorsicht also, wenn der DAX auf die 7.500 zusteuert. Wir befinden uns trotz guter Aussichten in einer Gefährdungszone.
Anmerkungen oder Anregungen? Martin Hüfner freut sich auf den Dialog mit Ihnen: redaktion@deutsche-boerse.com.
© 20. Juli 2012 /Martin Hüfner
Dr. Martin W. Hüfner ist Chief Economist bei Assenagon Asset Management S.A. Er war viele Jahre Chefvolkswirt beziehungsweise Senior Economist bei der HypoVereinsbank und der Deutschen Bank. In Brüssel leitete er den renommierten Wirtschafts- und Währungsausschuss der Chefvolkswirte der Europäischen Bankenvereinigung. Hüfner schreibt für große internationale Zeitungen wie die Neue Züricher Zeitung oder die Schweizer Finanz und Wirtschaft sowie für große Zeitungen in Deutschland. Er ist Autor mehrerer Bücher, u. a. 'Europa Die Macht von Morgen' und 'Comeback für Deutschland'
(Für den Inhalt der Kolumne ist allein Deutsche Börse AG verantwortlich. Die Beiträge sind keine Aufforderung zum Kauf und Verkauf von Wertpapieren oder anderen Vermögenswerten.)
Die Aktienkurse steigen, die Konjunktur geht in den Keller. Das passt nicht zusammen. Und trotzdem passiert es in diesen Wochen. Normalerweise nimmt man an, dass bei schlechterer Konjunktur die Gewinne der Unternehmen nachgeben und dass sich dies dann in niedrigeren Aktienkursen zeigt. Diesmal ist es aber ganz anders. Seit Mai verdüstert sich die Stimmung in den deutschen Unternehmen. Der ifo-Index, der das erfahrungsgemäß recht gut widerspiegelt, geht zurück. Die Aktienkurse sind dem zunächst gefolgt. Der DAX ist nach dem furiosen Auftakt zu Beginn des Jahres gefallen. Die Welt schien in Ordnung. Seit Juni gehen die Kurse aber wieder deutlich nach oben. Was ist los?
Theoretisch könnte man annehmen, dass wir die Konjunktur falsch messen. Die Konjunkturindikatoren hinken bekanntlich der tatsächlichen Entwicklung hinterher. Sie können nicht (oder nur schlecht) erfassen, wenn sich die Wirtschaftsentwicklung im zweiten Halbjahr wieder beschleunigen sollte. Der Aktienmarkt schaut dagegen normalerweise weiter in die Zukunft. Es könnte also sein, dass der jüngste Anstieg der Aktienkurse ein Signal ist für eine günstigere Entwicklung in Zukunft.
Tatsächlich gibt es einige, die im zweiten Halbjahr wieder mit mehr Wachstum rechnen. Das zweite Vierteljahr - so ihre Argumentation - war aufgrund von Lagerbewegungen ein Ausreißer nach unten. Im dritten und vierten Quartal wird es wieder nach oben gehen. Nicht nur die Läger müssen aufgestockt werden. Es wirken sich auch die geldpolitischen Lockerungen aus, die in den letzten Wochen in einer Reihe von Staaten ergriffen worden waren. China wird alles tun, um ein weiteres Absacken seiner Wachstumsrate zu verhindern. Wenn die Konjunktur dann wieder anzieht, werden auch die Aktienkurse weiter nach oben gehen.
Ich glaube das nicht. Ich bleibe nach wie vor skeptisch gegenüber der Konjunktur. Aus meiner Sicht hat der Anstieg der Aktienkurse einen anderen Grund: Das ist die Lockerung der monetären Bedingungen. Es ist mehr Geld in der Wirtschaft, die Zinsen sind gesunken. Damit haben die Investoren mehr Liquidität in der Tasche und sie müssen dafür Anlagen suchen. Zudem sind die Zinsen so unattraktiv geworden, dass die Chancen am Aktienmarkt in einem besseren Licht erscheinen. Schließlich gibt es durch die hohe Liquidität und die niedrigen Zinsen Inflationsbefürchtungen, die ebenfalls für eine Anlage in Sachwerten sprechen. Die Rohstoffpreise sind in den letzten Wochen bereits in Bewegung geraten.
Ein gutes Maß für die Liquiditätsentwicklung am Aktienmarkt ist die Geldmenge M1. Sie erfasst das Bargeld und die Sichteinlagen in einer Wirtschaft. Sie hat traditionell einen recht guten Vorlauf zu den Aktienkursen. In der Grafik habe ich die Veränderung von M1 der Entwicklung des DAX seit Anfang vorigen Jahres gegenübergestellt. Es zeigt sich, dass die Wachstumsrate von M1 in der ersten Hälfte 2011 zuerst deutlich zurückgegangen ist. Das war die Zeit, als die Europäische Zentralbank begann, die geldpolitischen Zügel anzuziehen. Die Aktienkurse haben auf die Abnahme der M1-Wachstumsraten mit einem deutlichen Absturz im August (das heißt mit einer entsprechenden zeitlichen Verzögerung) reagiert.
Ab Juli letzten Jahres haben sich die monetären Bedingungen aber verbessert. M1 wuchs schneller. Darauf
hat der Aktienmarkt seit September mit Kurssteigerungen reagiert. Im Mai 2012 schließlich hat M1 dann noch einmal einen deutlichen Satz nach oben gemacht (vielleicht ist das der Reflex auf den letzten großen Liquiditätsschub der EZB). Das müsste sich in den nächsten Monaten in einer weiteren Steigerung der Aktienkurse widerspiegeln.
Natürlich weiß niemand, wie sich die monetären Bedingungen im weiteren Verlauf des Jahres entwickeln werden. Viel spricht aber für einen weiter expansiven Kurs. In Europa könnte es möglicherweise zu einer weiteren Leitzinssenkung kommen. Manche erwarten auch quantitative Impulse zum Beispiel durch neue längerfristige Repogeschäfte. Einen Strich durch die Rechnung machen könnte nur, wenn die Rohstoffpreise - vor allem die Nahrungsmittelpreise - stärker steigen würden und die Zentralbank dann in einen Konflikt mit dem Ziel der Geldwertstabilität käme. Wenn das nicht passiert, dann sind auch die Aussichten für den Aktienmarkt gut.
Über eines muss man sich freilich klar sein: Die Aktienkursentwicklung ist allein monetär getrieben. Sie ist nicht fundamental durch eine gute wirtschaftliche Entwicklung und steigende Gewinne abgesichert. Es ist eine Liquiditätshausse. Das ist nicht ungefährlich. Wenn sich die monetären Bedingungen verschlechtern sollten (und eines Tages muss das zwangsläufig der Fall sein, wenn es nicht zu einer größeren Inflation kommen soll), dann wird sich dies schnell auch in den Aktienkursen zeigen.
Für den Anleger
Die gute Nachricht ist, dass die Aussichten für die Aktienkurse im zweiten Halbjahr gut sind. Es ist durchaus noch ein Anstieg des DAX von 10 oder 15 Prozent möglich. Die schlechte Nachricht ist, dass die Entwicklung nicht sauber ist, weil sie lediglich auf den monetären Verbesserungen beruht. Sie kann also mit erheblichen Schwankungen verbunden sein. Zudem ist zu beachten, dass der deutsche Aktienmarkt bei einem Indexniveau von 8.000 einen Deckel nach oben hat. Dieses Niveau wurde sowohl im Jahr 2000 als auch in 2007 und 2011 jeweils ganz oder fast erreicht. Es wurde bisher aber nie überschritten. Auch jetzt werden die Investoren wieder nervös werden, wenn sich der Index dieser Marke nähert. Vorsicht also, wenn der DAX auf die 7.500 zusteuert. Wir befinden uns trotz guter Aussichten in einer Gefährdungszone.
Anmerkungen oder Anregungen? Martin Hüfner freut sich auf den Dialog mit Ihnen: redaktion@deutsche-boerse.com.
© 20. Juli 2012 /Martin Hüfner
Dr. Martin W. Hüfner ist Chief Economist bei Assenagon Asset Management S.A. Er war viele Jahre Chefvolkswirt beziehungsweise Senior Economist bei der HypoVereinsbank und der Deutschen Bank. In Brüssel leitete er den renommierten Wirtschafts- und Währungsausschuss der Chefvolkswirte der Europäischen Bankenvereinigung. Hüfner schreibt für große internationale Zeitungen wie die Neue Züricher Zeitung oder die Schweizer Finanz und Wirtschaft sowie für große Zeitungen in Deutschland. Er ist Autor mehrerer Bücher, u. a. 'Europa Die Macht von Morgen' und 'Comeback für Deutschland'
(Für den Inhalt der Kolumne ist allein Deutsche Börse AG verantwortlich. Die Beiträge sind keine Aufforderung zum Kauf und Verkauf von Wertpapieren oder anderen Vermögenswerten.)