BRÜSSEL/KIEW/MOSKAU (dpa-AFX) - Verteidigungsminister Boris Pistorius erwartet ein Scheitern der EU-Pläne für die Lieferung von einer Million Artilleriegeschosse an die Ukraine bis zum Frühjahr 2024. "Die eine Million werden nicht erreicht. Davon muss man ausgehen", sagte der SPD-Politiker bei einem EU-Verteidigungsministertreffen am Dienstag in Brüssel. Grund seien unzureichende Produktionskapazitäten.
Deutschland habe mit dem Abschluss von Rahmenverträgen einen großen Teil dazu beigetragen, dass die Kapazitäten vergrößert werden können, erklärte Pistorius. Die Produktionsprozesse seien aber "wie sie sind". Nicht einmal ein Beschluss über eine Kriegswirtschaft könnte dazu führen, dass die Produktion morgen anspringt und der Bedarf gedeckt wird.
EU-Chefdiplomat erwägt Zwangsmaßnahmen
Einigkeit über die Frage der Verantwortung gibt es allerdings nicht. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell betonte, das Problem seien seiner Auffassung nach nicht die Industriekapazitäten. Etwa 40 Prozent der Produktion werde derzeit in Drittländer exportiert. Dass nicht genug Munition da sei, liege also daran, dass die Unternehmen ihre Produkte auf andere Märkte schickten.
"Vielleicht müssen wir also versuchen, diese Produktion auf den vorrangigen Markt zu verlagern, nämlich den ukrainischen", sagte Borrell. Nach seinen Angaben konnten bislang erst etwa 300 000 der in Aussicht gestellten Artilleriegranaten geliefert werden.
Die Fortschritte der EU bei der Unterstützung der Ukraine und Hilfspläne für die Zukunft standen am Dienstag als Topthema auf der Tagesordnung des Verteidigungsministertreffen in Brüssel. Die EU-Staaten hatten der Ukraine am 20. März versprochen, innerhalb von zwölf Monaten eine Million neue Artilleriegeschosse für den Abwehrkrieg gegen Russland bereitzustellen. Sie sollen aus den Beständen der Mitgliedstaaten, aber auch über neue gemeinsame Beschaffungsprojekte organisiert werden und Engpässe der ukrainischen Streitkräfte verhindern.
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba bedauerte, dass die Munitionslieferungen der EU nicht rechtzeitig eintreffen werden. "Es hat sich gezeigt, dass es noch sehr viele Hindernisse, viele nicht abgestimmte Dinge, sehr viel Bürokratie gibt", sagte der Diplomat im ukrainischen Nachrichtenfernsehen.
Deutschland will Militärhilfe für Ukraine deutlich aufstocken
Verteidigungsminister Pistorius bestätigte in Brüssel, dass die Bundesregierung die Haushaltsmittel für Militärhilfe für die Ukraine im kommenden Jahr deutlich aufstocken will. Statt der ursprünglich veranschlagten vier Milliarden Euro sind im Etat für 2024 nun acht Milliarden Euro vorgesehen.
Der Rüstungskonzern Rheinmetall (ETR:RHMG) hat von der Bundesregierung einen Auftrag über 32 Leopard-Panzer bekommen, mit denen die Ukraine im Krieg gegen Russland unterstützt werden soll. Die Fahrzeuge sollen nächstes Jahr ausgeliefert werden, wie das Unternehmen in Düsseldorf mitteilte.
Die EU stockt indes die humanitäre Hilfe für vom Krieg betroffene Menschen in der Ukraine um weitere 110 Millionen Euro auf. Mit dem frischen Geld könnten zum Beispiel Nahrungsmittel, Unterkünfte und Gesundheitsversorgung finanziert werden. Auch seien Bargeldhilfen und psychosoziale Unterstützung möglich. Durch die neuen Zusagen erhöht sich die Summe der seit dem Beginn der russischen Invasion zur Verfügung gestellten EU-Mittel auf insgesamt auf 843 Millionen Euro.
Landminen-Report: Zahl der Opfer in der Ukraine verzehnfacht
In der Ukraine sind durch den Angriffskrieg Russlands 2022 zehn Mal so viele Menschen wie im Jahr davor durch Landminen und explosive Überreste des Krieges umgekommen oder verletzt worden. Es gab dort 2022 gut 600 dokumentierte Fälle, wie die internationale Kampagne zum Verbot von Landminen (ICBL) in Genf berichtete. Weltweit fiel die Zahl der gemeldeten Opfer von 5544 auf 4710.
Russland habe seit der Invasion des Nachbarlandes im Februar 2022 in 11 der 27 ukrainischen Regionen Landminen verlegt, heißt es in dem ICBL-Landminen-Bericht. Aber auch die Ukraine setzte die Waffe nach diesen Angaben mindestens einmal ein - in Isjum im Raum Charkiw, als das Gebiet unter russischer Kontrolle war. Es habe dort mindestens elf Opfer gegeben. Anders als Russland gehört die Ukraine zu den Vertragsstaaten und hat als einziges der 164 Länder gegen die Bestimmungen verstoßen. Russland hat sich dem Vertrag nicht angeschlossen, auch die USA und China nicht.
Ukraine: Krieg mit Russland vor entscheidendem Jahr
Bei einem Besuch in den USA äußerte der Chef des ukrainischen Präsidentenbüros, Andrij Jermak, die Hoffnung auf einen Wendepunkt in der Verteidigung gegen Russlands Angriffskrieg. "Das nächste Jahr wird für uns entscheidend", sagte Jermak einer Mitteilung zufolge in einer Rede im Hudson Institute in Washington. Die Luftüberlegenheit Russlands müsse gebrochen werden. Dafür benötige Kiew mehr Flugabwehr von den Verbündeten.
"Ich sage Ihnen die Wahrheit: Dieser Winter wird für uns auch sehr schwer", sagte er mit Blick auf russische Luftangriffe auf das ukrainische Energienetz im vergangenen Winter. Kiew hatte mehrfach Befürchtungen geäußert, dass neue Angriffe Moskaus vor allem auf Umspannwerke auch in diesem Winter längere Stromausfälle verursachen könnten.
Kiew schließt Kompromissfrieden aus
Einmal mehr schloss Jermak einen Kompromissfrieden aus. "In unserem Falle wäre das Kriegsende über einen Kompromiss nichts anderes als eine Pause", warnte er. Die Ukraine befürchtet, dass Russland eine Waffenruhe zum Wiederaufrüsten nutzen könnte. Voraussetzung für einen "gerechten" Frieden wäre der vollständige Abzug russischer Truppen von ukrainischem Staatsgebiet, wie Jermak betonte.
Jermak sprach in Washington auch mit den Sicherheitsberatern aus den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland und dankte für die gewährte Unterstützung. Mit dieser Hilfe seien bereits knapp 50 Prozent der von Russland anfänglich besetzten Gebiete zurückerobert worden. Jedoch sei die russische Gruppierung in der Ukraine nun drei Mal so stark wie zu Beginn der Invasion. Russland kontrolliert einschließlich der bereits 2014 annektierten Halbinsel Krim weiter fast ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebiets.