BERLIN (dpa-AFX) - Bundesfinanzminister Christian Lindner rechnet in Folge des Ukraine-Krieges mit einem "Wohlstandsverlust" für die Menschen in Deutschland. "Der Ukraine-Krieg macht uns alle ärmer, zum Beispiel, weil wir mehr für importierte Energie zahlen müssen", sagte der FDP-Chef. "Diesen Wohlstandsverlust kann auch der Staat nicht auffangen." Die Bundesregierung werde aber "die größten Schocks abfedern", sagte er der "Bild am Sonntag" und ergänzte: "Ich habe ernsthafte Sorgen um die wirtschaftliche Entwicklung. Das Wachstum geht zurück, die Preise steigen."
Auch die deutsche Industrie befürchtet schwere wirtschaftliche Folgen wegen des Ukraine-Krieges. "Für Deutschland sieht der konjunkturelle Ausblick sehr trübe aus", sagte der Präsident des Industrieverbandes BDI, Siegfried Russwurm, der Deutschen Presse-Agentur. Bei einer Verschärfung des Konflikts und im Falle eine Lieferstopps russischer Energieimporte könnte Europas größter Volkswirtschaft nach Einschätzung der "Wirtschaftsweisen" ein Konjunktureinbruch drohen.
Die extrem gestiegenen Verbraucherpreise werden für immer mehr Menschen zur Belastung. Etwa jeder siebte Erwachsene in Deutschland (15,2 Prozent) kann nach eigenen Angaben kaum noch seine Lebenshaltungskosten bestreiten, wie eine Yougov-Umfrage im Auftrag der Postbank ergab. Von den Befragten aus Haushalten mit einem monatlichen Nettoeinkommen von unter 2500 Euro gibt inzwischen fast ein Viertel (23,6 Prozent) an, wegen gestiegener Preise kaum noch in der Lage zu sein, die regelmäßigen Ausgaben zu stemmen.
Experten rechnen damit, dass der Krieg in der Ukraine Rohstoffe wie Gas, Öl, aber auch Weizen dauerhaft verteuern wird. "Angesichts aller Unsicherheiten, die der Beginn des laufenden Jahrzehnts mit sich bringt, ist eines klar: Wir erleben das Ende einer Ära billiger Rohstoffe", sagte der Chef des luxemburgischen Rohstoffkonzerns Eurasian Resources Group (ERG), Benedikt Sobotka. Die internationalen Sanktionen trügen zu einem beispiellosen Preisanstieg bei.
Private Gasnutzer sollten nach Ansicht der Bundesnetzagentur schon jetzt höhere monatliche Abschläge auf ihren Verbrauch zahlen. "Viele Haushalte werden erst bei der Heizabrechnung im nächsten Jahr bemerken, wie stark der Preis gestiegen ist und die Nachzahlungen nicht stemmen können", sagte der Präsident der Agentur, Klaus Müller, der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". Die Verbraucher dürften nicht zu spät mit den steigenden Kosten konfrontiert werden.
Die Grünen werben weiter für ein Tempolimit auf Autobahnen. Mit Blick auf angestrebte Energieeinsparungen sagte Parteichefin Ricarda Lang dem Redaktionsnetzwerk Deutschland: "Weil es ansonsten kaum Maßnahmen gibt, die schnell wirken, brauchen wir jetzt ein temporäres Tempolimit auf Autobahnen - zum Beispiel für neun Monate und damit bis zum Ende des Jahres, also dem Zeitpunkt, zu dem wir spätestens unabhängig von russischem Öl werden wollen."
Ihr Koalitionspartner FDP lehnt ein Tempolimit weiterhin ab. FDP-Chef Lindner sagte, in der Krise durch die Corona-Pandemie und den Krieg in der Ukraine gebe es keine Zeit für ideologische Debatten. Die stark steigenden Preise hätten ohnehin schon dazu geführt, dass viele Menschen ihr Verhalten, ihre Fahrweise und ihren Konsum veränderten. Mehr als 8000 Betriebsräte fordern nach Angaben der IG Metall weitere Entlastungen für Arbeitnehmer. Ende März hatte die Koalition ein Paket zur Entlastung bei Energiepreisen vereinbart.
Erste öffentliche Schwimmbäder senken bereits die Wassertemperatur, wie die Deutsche Gesellschaft für das Badewesen der "Neuen Osnabrücker Zeitung" sagte. Sollte Russland seine Gaslieferungen kappen, könnten städtische Bäder auch geschlossen werden. In niederländischen Behörden wird die Heizung um zwei Grad Celsius nach unten geregelt. Bürger sind aufgerufen, zu Hause höchstens auf 19 Grad zu heizen. "Ziehen Sie eine warme Jacke oder einen warmen Pullover, Socken und Hausschuhe an", wird geraten. Wer daheim aktiv sei, könne den Thermostat noch ein Grad niedriger drehen.
Auch Unternehmen bereiten sich darauf vor, dass Gas knapp werden könnte. "Wir würden im Fall eines Embargos zunächst auf ölbasierte Treibstoffe und Stromgeneratoren umsteigen. Und wir hoffen, dass wir mit den nötigen Lieferungen unser Geschäft weiter betreiben können", sagte die Chefin des Pharmakonzerns Merck (DE:MRCG), Belén Garijo, der "Welt am Sonntag". Thyssenkrupp (DE:TKAG) -Chefin Martina Merz unterstützte die Pläne der Bundesregierung, sich so schnell wie möglich ganz von russischer Energie zu lösen. "Selbst wenn das teuer wird und viele Unternehmen vor große finanzielle Herausforderungen stellt", sagte Merz dem "Spiegel". Einen abrupten Importstopp lehnt sie allerdings ab.
Die Metall- und Elektroindustrie warnte für den Fall eines Lieferstopps vor Benachteiligung. "Niemandem wäre damit gedient, wenn die Menschen bei 24 Grad zu Hause in der Wohnung sitzen, aber die Unternehmen, in denen sie arbeiten, zusammenbrechen", sagte Gesamtmetall-Präsident Stefan Wolf der "Augsburger Allgemeinen".
Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir warnte in der Debatte um drohende Nahrungsmittelengpässe Ungarn vor Protektionismus. "Ich rate allen Staaten, hier vernünftig zu agieren. Ich sage das auch an die Adresse des EU-Mitglieds Ungarn", sagte der Grünen-Politiker den Zeitungen der Funke Mediengruppe. "Wer seine Märkte schließt, handelt wie ein Brandbeschleuniger. Wenn das alle machen, fahren wir gegen die Wand. Dann schießen die Preise durch die Decke.