- von Jens Hack
München, 12. Sep (Reuters) - München ist voll. Das ist nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich sind nur die Flüchtlingsmassen, die in der Isar-Metropole mittlerweile im Stundentakt ankommen. Hunderte, manchmal an die Tausend sind es pro Zug, je nachdem wo die Eisenbahn gerade herkommt. Für den Samstag hat die Regierung von Oberbayern insgesamt mehr als 10.000 vorhergesagt. Neben Regierungspräsident Christoph Hillenbrand barmt mittlerweile nach jeder Lagebesprechung auch Oberbürgermeister Dieter Reiter, andere Bundesländer mögen München entlasten. Mehr als 40.000 Menschen sind seit einer Woche über Österreich hier auf der Suche nach Aufnahme angekommen.
Dabei wuchsen die Beamten mit ihrer Aufgabe. Am Samstag gibt es selbst bei der Ankunft der prallvollen Sonderzüge kein Chaos. Alles läuft wie am Schnürchen. Die Bundespolizei sammelt die Flüchtlinge am Bahnsteig ein, in großen Gruppen werden sie zu einer aufgegebenen Schalterhalle am Rande des Bahnhofs geleitet. Dort haben die freiwilligen Helfer Berge von Wasserflaschen, Obst, Windeln und Altkleider aufgetürmt. Nach einem kurzen medizinischen Check geht es in einen der bereitstehenden Busse. Keine Stunde dauert diese Prozedur, dann sind die Flüchtlinge auf dem Weg zur ihrer Notunterkunft irgendwo in Bayern, teilweise auch in München selbst.
München und Oberbayern sind Massenaufläufe gewohnt: Papstbesuch, G7-Gipfel, das Oktoberfest, das in einer Woche wieder beginnt. Massenauftrieb ist in der Landeshauptstadt der Normalzustand, auch an diesem warmen Spätsommerwochenende. In Bayern gehen die Ferien zu Ende und die Urlauber kehren zurück, ausländische Touristen branden in Scharen durch die Fußgängerzone. Der FC Bayern spielt in der Allianz-Arena gegen das benachbarte Augsburg. Zu dem noch jungen Derby reisen viele Fans an.
Am Bahnhof nehmen viele Passanten den Massenandrang von Flüchtlingen als Event. Wenn einmal wieder eine große Gruppe vom Zug Richtung Erstaufnahme marschiert, stehen viele Menschen an den Absperrgittern und machen Fotos. Unter ihnen finden sich auch vereinzelt Araber aus den reichen Golfstaaten, die jedes Jahr der Hitze in ihrer Heimat entrinnen, Urlaub in München machen und ausgiebig einkaufen. Am Bahnhof muss auch mal das philippinische Kindermädchen die Gucci-Tasche halten, wenn die Dame des Hauses ein Erinnerungsfoto von den Flüchtlingen macht. Die Helfer tragen mittlerweile violette Warnwesten, manche haben sich T-Shirts drucken lassen mit der Aufschrift "Refugees welcome".
Doch wenn eines in München knapp ist, dann ist es Platz. In einer Stadt, in der manche für Monatsmieten Summen bezahlen, die syrische Flüchtlinge als Verkaufserlös für ihr Haus bekommen haben, ist nichts kostbarer als Quadratmeter. Gut 5000 Notplätze für die Nacht hat Hillenbrand organisiert, doch Bürgermeister Reiter und er fürchten, dass die Kapazitäten erstmals nicht ausreichen. Die übrigen Bundesländer haben ihm kaum freie Kapazitäten gemeldet, er hat für viele Ankömmlinge kein Ziel, wohin er sie weiterschicken könnte. Er fürchtet, erstmals nicht mehr "vor der Lage" zu sein, wie er es gerne formuliert. Nur drei Großquartiere hat er bis zum Mittag zur Verfügung, zwei davon am Rande der Stadt, eine in einem ehemaligen Autohaus in Bahnhofsnähe. Zur Not müssten die Flüchtlinge am Bahnhof bleiben, aber das will er vermeiden. "Unterschätzen sie nicht die Fantasie eines bayerischen Verwaltungsbeamten", sagt er. Dennoch ist im angesichts des nicht versiegenden Flüchtlingsstroms nicht wohl. "Nach dem Wochenende kommt der Montag", warnt er. Neben ihm erneuerte Reiter seine Appelle, Bund, die Länder und die Kommunen mögen sich doch solidarisch mit der Landeshauptstadt zeigen und die Flüchtlinge abnehmen. Doch der erst seit gut einem Jahr amtierende Reiter ahnt, dass viele Preußen, Hessen, Friesen und Franken dies seiner Stadt insgeheim gönnen. Allzu großspurig sind vielen anderen die Oberbayern mit ihrem "Mir san mir", ihrem forsch zur Schau gestellten Reichtum, ihrer legendären Selbstzufriedenheit. Da ihn auch die Landesregierung weitgehend hängen lässt, muss Reiter vorerst weiter auf die Ideenvielfalt bayerischer Verwaltungsbeamter hoffen.