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Geringeres Wachstum gleich weniger Fortschritt und Glück? Keineswegs!

Veröffentlicht am 29.08.2018, 12:10
© Reuters.  Geringeres Wachstum gleich weniger Fortschritt und Glück? Keineswegs!

Wenn das Wachstum nicht mehr exponentiell ist, sondern nur noch linear verläuft und der Kuchen, von dem alle ein Stück abbekommen möchten, immer kleiner wird, dann wird auch die Gesellschaft über kurz oder lang eine andere werden.

Es stellt sich also die Frage, ob eine weniger stark wachsende Wirtschaft eher als Segen oder als Fluch zu bezeichnen ist. Wie so oft in der Welt gibt es für beide Ansichten gute Argumente.

Wächst die Wirtschaft nicht mehr oder nicht mehr so schnell, dann kann es auch mit Löhnen und Gehältern kaum noch weiter nach oben gehen. Wir hätten in diesem Fall den Zenit unserer Kaufkraft erreicht oder sogar bereits überschritten und könnten uns in Zukunft nicht mehr so viel leisten.

Neue Technologien könnten dann zu einem Problem werden, denn wenn sie für die breite Masse nicht mehr bezahlbar sind, werden sie sich am Markt nicht durchsetzen können. Das gilt für selbstfahrende Autos ebenso wie für ein schnelleres Internet oder medizinische Therapien, die besonders aufwendig und damit teuer sind.

Ist die Zukunft eine Zweiklassengesellschaft?

Schnell hat man an dieser Stelle das Bild einer Zweiklassengesellschaft vor Augen. Den wenigen Reichen, die sich alles leisten können, steht eine Masse an relativ armen und mittellosen Menschen gegenüber, die sich neidisch abwendet und in Verzicht üben muss.

Derartige Bilder will niemand, schon gar niemand für die Zukunft prophezeien oder gar herbeiwünschen. Doch wenn wir ehrlich sind, müssen wir anerkennen, dass diese an sich ungewollte Zweiklassengesellschaft in vielen Lebensbereichen schon längst geübte Realität ist.

In der Bahn gibt es zwei Klassen, im Flugzeug sogar drei und auf Deutschlands Straßen fahren höchst unterschiedlich motorisierte Autos durch die Gegend. Dabei ist das Ziel immer das gleiche. Menschen wollen vom einen Punkt zum anderen gelangen und es ist im Grunde nicht einsichtig, warum der gleiche Wunsch einmal mit 50 und einmal mit 500 PS unter der Motorhaube realisiert werden muss.

Der Verkehr ist leider nicht der einzige Sektor, in dem schon heute eine höchst unterschiedliche und ungerechte Verteilung von Macht und Ressourcen anzutreffen ist. In sehr vielen Bereichen leistet sich unsere Gesellschaft schon seit vielen Jahren eine auffällige Asymmetrie und stört sich kaum daran.

Gegensätze verschärfen oder abbauen?

Dass ein verlangsamtes Wachstum diese Entwicklung weiter beschleunigen und damit radikalisieren kann, diese Gefahr ist nicht zu übersehen. Wo eine Gefahr ist, lauert aber meist auch eine latente Chance und ein vermindertes Wachstum könnte der entscheidende Impuls sein, sie endlich zu ergreifen.

Die heutige Konsumproduktion ist schon lange nicht mehr nur noch als ein „Segen“ zu betrachten. Weder für den Konsumenten selbst noch für die Umwelt gilt heute noch uneingeschränkt die Behauptung, dass ein ‚mehr‘ oder ein ‚weiter so‘ wirklich zu einem mehr an Lebensqualität, Glück und Zufriedenheit führt.

Unser Streben nach immer mehr Wohlstand ruiniert die Ressourcen der Welt. Das geht bei Äckern und Wiesen los und endet beim Plastikmüll auf den Weltmeeren. So unterschiedlich die Probleme dabei im Einzelnen sind, so generell ist die Ausgangslage. Stets geht es um die Frage, ob die Konsumwünsche und/oder Gewinnerzielungsabsicht eines Einzelnen die schädlichen Konsequenzen für die Vielen legitimiert.

Wird diese Frage nicht mit einem kategorischen ‚Ja‘ beantwortet, so müssen all die Verteilungskämpfe und Konflikte auf den Tisch, die an dieser Stelle ihren Ursprung haben. Sich dieser Frage zu stellen, wird gewiss nicht leicht sein. Doch je eher sie gestellt wird, desto einfacher ist es, sie zu beantworten, denn je länger Gesellschaften auseinanderdriften, umso schwieriger ist es, hinterher den Bruch wieder zu kitten.

Geringes Wachstum heißt nicht unbedingt kein Fortschritt

Wir haben uns angewöhnt, wirtschaftliches Wachstum mit Fortschritt gleichzusetzen. Diese Sichtweise ist verständlich, denn die technische Entwicklung seit dem Beginn der industriellen Revolution und damit seit dem Aufkommen hoher Wachstumszahlen war in der Tat beeindruckend.

Doch so verständlich diese Sichtweise ist, so falsch ist sie auch. Frühere Jahrhunderte hatten deutlich weniger Wachstum, doch neue technologische Entwicklungen und Fortschritt gab es auch damals. Dass er sich nicht so schnell verbreitet hat wie zu unserer Zeit, lag an den damaligen Gegebenheiten, nicht am Wachstum.

Stellen Sie sich nur einmal vor, wie sich unsere Welt wohl verändert hätte, wenn der Buchdruck 500 Jahre früher erfunden worden wäre. Ideen durch Abschreiben zu vervielfältigen, ist wesentlich aufwendiger, als sie zu drucken und über das Internet verbreiten sich Gedanken heute schneller um die Welt als zu jeder anderen Zeit zuvor.

Gerade das Internet kann dazu beitragen, bestehende Monopole aufzubrechen. Es kann sie aber auch verfestigen und damit langfristig Entwicklungen verhindern oder zumindest verzögern. Die entscheidende Frage ist also nicht die nach Wachstum oder Stillstand, sondern jene nach der Herrschaft und der Gewalt über die Ressourcen.

Wird sie korrekt gestellt und im Sinne des übergeordneten Ganzen beantwortet, kann auch ein deutlich geringeres Wachstum ein großer Segen für die Menschheit sein.

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Ein Beitrag von Dr. Bernd Heim.

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