Diese Börsenweisheit stammt aus der guten alten Zeit, als Musterverläufe noch Bedeutung hatten. Heutzutage ist deren Regelhaftigkeit jedoch nicht besser als die von Wetterprognosen. Die vielen Markteinflüsse sind einfach zu vielfältig und zu unberechenbar. Und sollte die Weisheit dennoch einmal zutreffen, ist eher Zufall im Spiel. Aber könnte es genau 2022 zu diesem Zufall kommen? Immerhin zeigt sich der DAX seit Mai betrübt. Wieviel Wende steckt im September?
„Die Lage war noch nie so ernst“…
hat Altkanzler Konrad Adenauer in seiner Amtszeit immer wieder gesagt. Ja, grundsätzlich gibt es auch jetzt in der Wirtschaft und am Aktienmarkt nichts zu beschönigen. Aber selbst wenn die Pessimisten wie bei einem Rockkonzert in Wacken alles übertönen, sollten Anleger trotzdem auch die Ohren für die leiseren Chancen-Töne spitzen.
In puncto Gas- und Strompreise können sich die auch psychologischen Beeinträchtigungen im weiteren Jahresverlauf zumindest entspannen. Demnächst kann z.B. über den Rhein wetterbedingt wieder mehr Kohle zur Verstromung transportiert werden. Und Putin hat mit seiner Null-Gas-Politik seinen entscheidenden Trumpf ausgespielt. Weniger als null geht nicht.
Und jetzt muss auch die (Energie-)Politik liefern. Dazu muss vor allem der europäische Schulterschluss her. Von den USA ist hier wenig zu erwarten. Da sie nicht von russischer Energie abhängig sind, wollen sie Russland möglichst lange ausbluten zu lassen, damit es zu einer Regionalmacht wird.
Die geplanten Interventionen der EU zur Kostendämpfung und die Entkopplung von Gas- und Strompreis sind zwar nicht über jeden marktwirtschaftlichen Zweifel erhaben. Aber in einer epochalen Krise muss das in den Brunnen gefallene Kind schnell wieder herausgeholt werden.
„Zuerst das Land, dann die Partei“
Und natürlich muss die deutsche Wirtschaftspolitik ihre Hausaufgaben machen. Die ideologischen Bretter sind abzunehmen und bei den baldigen Sankt Martins-Feuern als Brennholz zu verwenden. Und dann machen wir bitte die große Familienpackung Wirtschaftskompetenz auf. Es muss aus allen Energie-Rohren geschossen werden, inklusive Kohle- und Atomstrom. Denn bis alternative Energien in die Bresche springen - wenn mit Blick auf Grundlast überhaupt möglich - wird so mancher warme Pullover noch gestrickt werden müssen. Werden diese Fakten weiter mit Scheuklappen ignoriert, sollte sich der Bundeskanzler an seine Richtlinienkompetenz erinnern. Mit der Wirtschaft, den Unternehmen und den Jobs spielt man nicht.
Zur Wirtschaftskompetenz gehört übrigens auch das Verständnis für die Wirkungsweise von Terminmärkten, die die Energiepreise in Panik ähnlich schnell nach oben getrieben haben wie der Hund die Katze auf den Baum. Würde in Deutschland eine vernünftige, pragmatische Energiepolitik betrieben, bekäme man die Katze auch wieder vom Baum herunter. Dass man höchste Energiepreis nicht einfach hinnehmen muss und Dinge sich zum Besseren wenden können, zeigen die aktuellen Gas- und Strompreise, die seit Ende August um ca. 38 bzw. 50 Prozent nachgegeben haben.
Einen Rezessionswinter wird man damit zwar nicht verhindern und die Inflation wird zunächst noch hoch bleiben. Aber wichtig ist, dass die politische Mitte in einer (Energie-)Krise einem Wutwinter und Perspektivlosigkeit entgegenwirkt. Damit gräbt man nicht zuletzt Putin das Wasser ab, der auf soziale Unruhen in Europa sehnsüchtig wartet wie Kinder auf die Bescherung an Weihnachten. Die deutsche bzw. europäische Gegenwehr macht aus einem Aggressor zwar noch keinen Gänseblümchenpflücker, böte aber zumindest langfristig die Chance, zu einer Konfliktlösung beizutragen.
Teilweise wird durch die Geländegewinne der Ukraine das Szenario eines schneller als erwartet beendeten Ukraine-Kriegs an den Märkten bereits gespielt. Theoretisch wäre es ein dramatisch positiver Game Changer für Wirtschaft und Finanzmärkte. Die negative Teufelsspirale würde zurückgedreht, (Energie-)Sanktionen könnten gelockert werden, Gaspreise fielen und die Wirtschaft könnte wieder das machen, was sie am liebsten tut: Wachsen. An diesem Punkt sind wir aber (noch) nicht. Umso wichtiger ist es, dass Europa und Deutschland Putin jetzt Wehrkraft an allen Fronten zeigt.
Im Übrigen ist Wirtschaftsstandort nicht gleich Börsenplatz. Die börsennotierten Unternehmen werden bei nicht genehmer nationaler (Energie-)Politik immer mehr international fremdgehen. Sie stehen im scharfen internationalen Wettbewerb und haben auf ideologische Sperenzchen so wenig Lust wie Sonnenanbeter auf Dauerregen. Sie sehen, dass Amerika ein verlässlicher Energiestandort mit im Vergleich geradezu paradiesischen Preisen ist. Und so zieht es auch immer mehr mittelständische Aktienunternehmen über den großen Teich. Das müsste bei jedem Politiker in Deutschland Schmerzen auslösen, weil damit auch Arbeitsplätze exportiert werden. Der Börse dagegen ist es egal, ob Rendite im In- oder Ausland erzielt wird. Hauptsache, der Erfolg kommt.
Restriktive Geldpolitik als Auslaufmodell
Die letzten, höher als erwarteten US-Inflationszahlen haben die Aktienanleger auf dem falschen Fuß erwischt. Doch wird die US-Notenbank jetzt noch beherzter und zügiger ihre Zinserhöhungs-Mission durchführen, um der Inflation am Ende doch noch ihre Steherqualitäten zu nehmen. Die abflachende Zinsangst werden die Aktienmärkte zum Jahresende zunehmend freudig antizipieren.
Gleichzeitig muss niemand große Zinsangst seitens der EZB haben. Zinserhöhungen und Liquiditätsverknappungen mit Schaum vor dem Mund wird es mit Blick auf Konjunktur- und Schuldensorgen in Europa nicht geben.
Wieviel September-Effekt ist drin?
Wenn man dann auch noch feststellt, dass sich die Bewertungen der Aktien vergleichsweise günstig präsentieren, viele große Investorengruppen geradezu in Anlageliquidität baden und die Krisen sicherlich nicht unbekannt sind, gibt es unabhängig von der grundsätzlichen Sinnhaftigkeit der Börsen-Regel Gründe für einen September-Effekt.
Es wird kein Durchmarsch werden und es wird in der dunklen und vor allem kalten Jahreszeit auch Angst und Verunsicherung geben.
Doch auch der Börsen-Herbst hat schöne Tage.
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