FRANKFURT/PARIS/LONDON (dpa-AFX) - Nach zwei Corona-Jahren der Extreme erhofften viele Anleger Anfang 2022 vor allem eins: eine ruhigere Gangart an den Börsen. Doch es kam bekanntlich anders. Mit Ukraine-Krieg und Energiepreiskrise waren alle Hoffnungen auf eine Normalisierung dahin. Gelöst ist unterdessen keines der Probleme, die 2022 die Schlagzeilen beherrschten. Mit dem wohl doch noch für längere Zeit strikten Kurs der Notenbanken hat sich die Lage zuletzt sogar wieder zugespitzt. Für 2023 sind die Aussichten durchwachsen und sicher ist nur eines: die Unsicherheit.
Das kommt in den Ausblicken der Banken zum Ausdruck. "Die Themen für 2023 scheinen gesetzt: Inflation, Rezession und Folgen des Ukrainekriegs", stellen die Experten der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) in ihrem Kapitalmarktkompass fest. Die Markterholung im vierten Quartal tut der Skepsis keinen Abbruch. Der Stabilisierung seit Oktober werde bald die Luft ausgehen, warnte LBBW-Aktienmarktstratege Frank Klumpp noch im alten Jahr. Und er sollte erst einmal Recht behalten. Um Weihnachten und den Jahreswechsel herum kam der Dax kaum noch über 14 000 Punkte hinaus. Das Jahr 2022 beendete er mit einem Minus von gut zwölf Prozent unter der psychologisch wichtigen Schwelle.
Die "überraschend positive" Berichtssaison der Dax-Unternehmen zum dritten Quartal hat für den Experten lediglich aufschiebende Wirkung gehabt. Denn längst nehmen die Analysten ihre Erwartungen zurück. "Im Dax beziehungsweise Stoxx Europe 600 sinken die Gewinnschätzungen seit Oktober." Damit folgen die europäischen Unternehmen einem Trend, der in den USA bereits Mitte Juni eingesetzt hat. Daher erschienen europäische Aktien auch nicht sonderlich günstig, erklärt Klumpp weiter.
Für sinkende Gewinne sprechen zudem die Konjunkturaussichten. "Wir gehen davon aus, dass sich das globale Wachstum 2023 auf 1,7 Prozent verlangsamen wird, wobei die meisten Industrieländer stagnieren und Europa sogar eine Rezession erleben könnte", betont Luca Paolini, Chefstratege von Pictet Asset Management.
Auch von den Notenbanken dürfen die Märkte keine Unterstützung erwarten. Die US-Währungshüter sind zwar etwas vom Gas gegangen, doch weniger Geschwindigkeit bedeutet noch keinen Richtungswechsel. Das hat die Notenbanksitzung Mitte Dezember eindrucksvoll gezeigt. Anleger, die auf Signale einer weniger strikten Geldpolitik hofften, sahen sich getäuscht. "Die Fed dürfte unseres Erachtens bis auf Weiteres darauf bedacht bleiben, die Zinswendespekulation zurückzudrängen", betont Anleihespezialist Elmar Völker von der LBBW. Thomas Gitzel, Chefvolkswirt der VP Bank, weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Zinserwartungen der Fed für 2023 jüngst auf 5,1 Prozent gestiegen sind.
Und die Europäische Zentralbank sorgte mit ihrer jüngsten Sitzung sogar für eine handfeste Überraschung. "Die Inflationsaussichten wurden deutlich nach oben korrigiert, die Zinssätze müssen deutlich und stetig steigen", fassten die Anleiheexperten der Fondsgesellschaft M&G die Ergebnisse der Sitzung zusammen. Und schlimmer noch: EZB-Chefin Christine Lagarde habe eingeräumt, dass das vom Markt bisher angenommene höchste Zinsniveau von drei Prozent zu niedrig sei.
Das gilt um so mehr, wenn die Kerninflation ohne die volatilen Energiepreise auf hohem Niveau bleiben sollte, wie die Marktstrategen Edward Stanford und Analyst Amit Shrivastava von der britischen Bank HSBC (LON:HSBA) betonen. Mit einer strikten Geldpolitik wachse aber die Gefahr einer scharfen Rezession mit entsprechend negativen Auswirkungen für Aktien.
Für die LBBW sind die genannten Risiken Grund genug, zunächst an einer defensiven Positionierung festzuhalten. Dafür spricht nach Ansicht von Experte Klumpp auch der Umstand, dass noch kein Ausverkauf an den Börsen stattgefunden hat. "Erst dann ist der Markt bereinigt und der Weg für eine nachhaltige Trendwende nach oben wieder frei", so Klumpp. Daher dürfte das erste Halbjahr 2023 nochmals schwach werden, bevor sich die Lage zum Besseren wendet.
Allen Unkenrufen zum Trotz könnte 2023 aber auch positive Überraschungen bringen. "Die Konsensprognosen für die europäische Wirtschaft sind sehr verhalten - der Ausblick für Europas Unternehmen und den europäischen Aktienmarkt ist unserer Ansicht nach aber positiver", geben Mark Nichols und Mark Heslop, European Investment Manager bei der Fondsgesellschaft Jupiter Asset Management, zu bedenken. Den in ihren Augen hohen Bewertungsabschlag für europäische Aktien im Vergleich zu US-Werten halten sie daher nicht für gerechtfertigt. So machen hiesige Unternehmen große Teile ihrer Geschäfte außerhalb Europas.
Auch Robert Halver, Leiter der Kapitalmarktanalyse der Baader Bank, hält es für verfehlt, die Probleme 2022 in die Zukunft fortzuschreiben. Im Gegenteil: "Was bislang Gegenwind verursachte, wird 2023 für Rückenwind sorgen", meint Halver. So dürften sich die gestörten Lieferketten zunehmend stabilisieren. Das hätte auch Folgen für die Preise. Halver rechnet mit abnehmendem Inflationsdruck, "denn ab Frühjahr lässt der Basiseffekt ansteigender Rohstoffpreise sowie der Lieferengpässe im Vorjahresvergleich immer stärker nach."
Und damit nicht genug. "Ende 2023 ist sogar eine Zinswende nach unten vorstellbar", prognostiziert Halver. Denn die US-Notenbank dürfte nicht überreizen und eine harte Landung der US-Konjunktur riskieren. Das gilt um so mehr, als Wirtschaftsabschwung und die bisherigen Zinserhöhungen für einen Rückgang der Inflation sorgen dürften.
Die zuletzt harsche Rhetorik der Europäischen Zentralbank ist nach Ansicht des Marktexperten nicht in Stein gemeißelt. "Die mit Zeitverzug zu Amerika einsetzende Inflationsentspannung auch in der Eurozone dürfte verbal übereifrigen Zinserhöhungsambitionen in der Praxis einiges an Wasser abgraben." Und zudem sei diesseits wie jenseits des Atlantiks Flexibilität angesagt. "Wie bei der Fed hält sich die EZB mit der Aussage, dass geldpolitische Beschlüsse von der Datenlage abhängen, ein Türchen offen", betont Halver.
Halver rät zudem, einen Blick auf die Ausschüttungen der Unternehmen zu werfen. Die im Dax vertretenen Konzerne peilten 2023 mit rund 54 Milliarden Euro einen "Dividendenrekord" an - angesichts der immer noch hohen Inflation zumindest ein Trostpflaster, zumal dann, wenn die Kurse nicht steigen sollten.
Hoffnungsschimmer machen auch die Experten der Landesbank Baden-Württemberg aus. Denn bei aller Skepsis sind sie nur für die erste Hälfte des kommenden Jahres verhalten. In ihrem Hauptszenario trauen sie dem Dax bis Ende 2023 mit 15 500 Punkten und dem Euro Stoxx 50 mit 4050 Punkten Zuwächse zu - unter der Voraussetzung, dass die Ukraine-Krise nicht eskaliert und die Inflation nicht aus dem Ruder läuft.
Das wäre beim Dax ein Plus von rund elf Prozent. Allerdings rechnen die Experten zunächst mit einem Kursrutsch bis auf 13 000 Punkte.
Für den EuroStoxx ergäbe sich ein Jahreszuwachs von fast sieben Prozent, wobei der Verlauf aber ähnlich holperig wie beim Dax sein dürfte. Damit sind die LBBW-Strategen sogar etwas optimistischer als andere Banken. So erwarten Marktstrategen verschiedener Häuser den Eurozonen-Leitindex Ende 2023 laut Daten der Nachrichtenagentur Bloomberg im Schnitt bei 3960 Punkten und damit nur wenig über dem aktuellen Niveau.