FRANKFURT (DEUTSCHE-BOERSE AG) - Wer sich die vielen Investment-Ratgeber anschaut, kann mitunter den Eindruck gewinnen, dass langfristiges Investieren eine Art Martyrium ist. Beispiele? Appelle an das Durchhaltevermögen, die Notwendigkeit, roboterhaft zu agieren und - um Gottes Willen - bloß nie der Masse folgen. "Wirklich??, fragt sich Ali Masarwah, Geschäftsführer des Finanzdienstleisters envestor.
11. März 2024. FRANKFURT (envestor). Die Kapitalmärkte kennen derzeit kein Halten: Angetrieben von der Kursrally in den USA ist die Hausse in den letzten Wochen immer breiter geworden. Europa-Aktien erreichen neue Höchststände, so auch die Preise für Bitcoin und Gold. Selbst der japanische Aktienmarkt notiert über dem Stand von Ende 1989. US-amerikanische Aktien eilen sowieso von Hoch zu Hoch und auch Anleihen reüssieren. Das stellt viele Anleger vor ein Dilemma: Können sie vollumfänglich dabei sein und sich nicht schlecht fühlen? Allenthalben dominieren die Warnungen davor, dass die Märkte überbewertet seien - "so hoch wie zuletzt vor dem Platzen der Dot-Com-Bubble?. Hilfe! Also nichts wie raus und warten, bis die Blase geplatzt ist?
Ohne zu wissen, wie sich die Märkte entwickeln werden, behaupte ich, dass Aussteigen und "Gewinne mitnehmen? jetzt falsch wäre. Dafür gibt es empirische Gründe, aber auch verhaltenspsychologische. Die empirischen: Die Wahrscheinlichkeit, dass auf ein Kurshoch ein weiteres folgt, ist größer, als dass nach einem Kurshoch der müllerdirksche Crash kommt. Der seinerzeitige Fed-Chef Alan Greenspan hat den viel zitierten Begriff "irrational exuberance? im Jahr 1996 geprägt. Die Tech-Bubble platzte aber erst rund vier Jahre später. Und überhaupt: Nicht jede Übertreibung endet in einem Crash.
Eine mitunter hinderliche Freudlosigkeit könnte sich auch einstellen, wenn man die vielen Investment-Ratgeber mit ihren Spruchweisheiten allzu wörtlich nimmt. Immer rational bleiben, immer systematisch investieren, nie der Herde folgen, sind einige Mantras. Aber wer investiert, interagiert noch immer in einem sozialen Kontext. Niemand wird zum Roboter oder sollte langfristiges Investieren als ein permanentes Durchschreiten des Tals der Tränen verstehen.
Ein Vermögen aufzubauen, ist auch kein beharrlicher Kampf gegen satanische Versuchungen in der Behavioral-Finance-Wildnis. Auch die Fans der Effizienzmarkthypothese sollten sich vergegenwärtigen, dass Fama, French und Co. seit 30 Jahren darum ringen, die Abweichungen vom systematischen CAPM-Marktmodell - wiederum: systematisch - zu erklären.
Für die aktuelle Hausse gibt es Gründe, die die Realität prägen. Die wirklich guten Anleger lernen schnell und handeln nach der Maxime: "Wenn sich die Umstände ändern, ändere ich meine Meinung. Und was ist mit Ihnen?? Wer will, mag die Rally als unheimlich oder irrational empfinden, aber die Märkte werden auch von fundamentalen Faktoren getrieben: Die Inflation sinkt, die Wirtschaft in den USA ist noch immer robust, und es ist viel Liquidität im Markt. Außerdem haben Aktien derzeit ein starkes Momentum.
Anstatt zu bangen könnten sich langfristig agierende Anleger zurücklehnen und genießen. Meine Nvidia-Position liegt bei 5 Prozent des Aktienportfolios? Kein Problem, es gibt da ja noch die anderen 95 Prozent. Die USA sind teuer? Dann investiere stärker in Europa, Japan und die Schwellenländer.
Nicht empfehlenswert wäre es dagegen, jetzt "noch mal eben schnell reich zu werden? und Haus und Hof für ein Investment in Nvidia-Aktien zu verpfänden. Gutes Investieren ist nicht alles auf Rot oder Schwarz zu setzen, sondern die Folgen der ewigen Unsicherheit an der Börse durch Diversifikation zu reduzieren. Wer Hasenfüßigkeit als Disziplin missversteht, läuft Gefahr, jede Hausse entweder nicht oder nicht vollumfänglich mitzunehmen - das kostet mitunter ähnlich viel Rendite wie "all-in?-Wetten auf High-Growth-Aktien
Von: Ali Masarwah, 11. März 2024, © envestor.de
Ali Masarwah ist Fondsanalyst und Geschäftsführer von envestor.de, eine der wenigen Fondsplattform, die Cashbacks auf Fonds-Vertriebsgebühren zahlt. Masarwah analysiert seit über 20 Jahren Märkte, Fonds und ETFs, zuletzt als Analyst beim Research-Haus Morningstar. Seine Expertise wird auch von zahlreichen Finanzmedien im deutschsprachigen Raum geschätzt.
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