Plötzlich wie aus dem Nichts heraus stark fallende Kurse sind den Anlegern ein Graus. Nicht minder angstbesetzt ist die Vorstellung eines Marktes, der verhältnismäßig langsam dafür aber konstant fällt. Einem solchen Salamicrash, bei dem Tag für Tag unbarmherzig eine Scheibe vom Kursniveau abgeschnitten zu werden scheint, fühlen sich viele noch hilfloser ausgesetzt als einem kräftigen Kursrutsch.
Der „normale“ Crash wirkt wie eine kalte Dusche. Auch wenn man weiß, dass gleich kaltes Wasser auf die Haut treffen wird, so ist der Kontakt mit ihm im ersten Moment dennoch ein schockierender, weil es einen scharfen, deutlich spürbaren Wechsel gibt, vom warmen Wasser hin zum kalten oder von trockener Umgebungsluft hin zum kalten Wasser.
Der scharfe Wechsel bringt uns sofort in Fahrt. Unser Körper schüttet Adrenalin aus und das Herz schlägt schneller. Mit einem Wort: Wir sind von einer Sekunde auf die nächste alarmiert und sofort hellwach. Den Anlegern ergeht es bei einem Crash nicht viel anders. Das Ereignis selbst mag zwar für viele überraschend kommen, doch wenn es eingetreten ist, weiß ein jeder gleich, was gespielt wird, weil die Veränderungen so stark und so offensichtlich sind.
Beim langsamen Salamicrash ist es anders. Hier sind die Veränderungen so gering, dass man sie im ersten Moment kaum spürt. Nur mit etwas mehr Abstand und beim Blick auf die größeren Zeitebenen wird deutlich, dass sich weitgehend unbemerkt ein Wechsel vollzieht. Er erinnert mehr an den Gezeitenwechsel an der Küste als an die schockierende kalte Dusche, weil die Veränderung viel Zeit in Anspruch nimmt.
Stabile und labile Gleichgewichte
Im Allgemeinen lieben wir Menschen stabile Gleichgewichte. Sie geben uns Sicherheit und Standfestigkeit. An der Börse bewirken sie jedoch, dass sich, zumindest mit Blick auf den Kurs, so gut wie gar nichts tut. Es wechseln zwar viele Aktien, Anleihen, Optionen oder Futurekontrakte den Besitzer, aber im Preis spiegeln sich diese Veränderungen nicht wider. Er verharrt mehr oder weniger konstant auf einem Niveau.
Viel lieber sind uns, wenn wir ehrlich sind, die labilen Gleichgewichte, denn sie versprechen Bewegung. Auf diese Bewegungen setzen Trader wie Investoren gleichermaßen, wenn auch auf unterschiedlichen Zeitebenen. Tut sich auf Dauer nichts, haben beide über kurz oder lang ein Problem.
Die Bewegung verspricht nicht nur Spannung bei der Frage, liege ich mit meiner Prognose zum weiteren Verlauf richtig oder falsch. Sie bedeutet auch immer eine Gefahr, denn Bewegungen von Individuen sind im Grunde chaotisch, weil jeder ein anderes Ziel hat. So gleichen sie sich weitgehend wieder aus.
Erst in der Masse, wenn alle plötzlich nicht nur das gleiche Ziel haben, sondern es auch noch zum selben Zeitpunkt erreichen möchten, wird das ursprüngliche Chaos zu einem gleichmäßigen reißenden Strom, der alles fortschwemmt, was sich ihm in den Weg stellt. Aufgestaute Fluten und Lawinen, die ins Tal stürzen, sind passende Bilder für diese Marktphasen.
Crashs sind vorhersehbar und gleichzeitig unvorhersehbar
Das Bild der Lawine lässt sich sehr gut auf den Crash an der Börse übertragen. Schon lange bevor die Lawine ins Tal donnert, weiß man um die Gefährlichkeit der Situation. Man kennt die Orte, die besonders gefährdet sind, im Grunde schon im Sommer, und während der Schnee sich auftürmt, verstärken sich allmählich die Sorgen um einen baldigen Abgang.
Den konkreten Zeitpunkt des Lawinenabgangs kennt im Vorfeld jedoch niemand. Er ist absolut unvorhersehbar. Über eine lange Zeit hinweg häuft sich der Schnee am Berghang an. Es kommt beständig mehr hinzu, bis eine kleine Menge ins Rutschen gerät. Ist sie nicht mehr zu stoppen, lässt sich die weitere Entwicklung nicht mehr aufhalten.
Ab diesem Zeitpunkt verläuft alles chaotisch und unkontrollierbar, aber mit einer sehr hohen Dynamik. An der Börse ist es nicht viel anders, denn die Entwicklungen verlaufen im Grundsatz sehr ähnlich: Ein Prozess entwickelt sich langsam auf einen Punkt zu, an dem das ganze System instabil wird. Ist dieser Höhepunkt erreicht, folgt unmittelbar der Zusammenbruch.
Auch wenn es sich im ersten Moment so anhören mag, dieser Prozess ist nicht linear und er kann deshalb auch nicht in der Weise klar vorausgesagt werden, dass man schon im Vorfeld den Zeitpunkt des Zusammenbruchs konkret bestimmen könnte. Alle Warnungen sind deshalb im Grunde nichts anderes als unpräzise Ahnungen, dass etwas in der Luft liegt und Unheil droht.
Der Crash und die Wand der Sorgen
Man sagt den Bären an der Börse nach, dass ihre dunklen Vorahnungen ausgeprägter seien als die der Bullen. Möglicherweise stimmt das. Aber das ist an dieser Stelle gar nicht der entscheidende Punkt. Im Vorfeld wissen alle, dass das Band überdehnt wird, etwa wenn man wie vor der Subprimekrise Kredite an Leute vergibt, die am besten nie einen bekommen hätten, oder wenn man wie vor dem Platzen der Dotcom-Blase sein Geld bevorzugt in jene Firmen investiert, die es besonders schnell verbrennen.
Gleichzeitig weiß man, dass die Börsen an einer Wand der Sorgen entlang zu steigen pflegen. Das tun sie allerdings bevorzugt am Beginn einer Hausse. An deren Ende ist die Stimmung oftmals eine ganz andere, denn dann überwiegen bei den Anlegern Optimismus und Sorglosigkeit.
Besonders optimistisch ist die Stimmung derzeit nicht. Man weiß um die Länge des bereits hinter uns liegenden Börsenaufschwungs, man kennt die Unberechenbarkeit des derzeitigen US-Präsidenten, fürchtet ihre Auswirkungen und man ist sich auch über die weitere weitere Entwicklung im Handelskonflikt nicht vollständig im Klaren. Von einer besonders großen Euphorie kann also keine Rede sein.
Gleichzeitig präsentieren sich die Marktteilnehmer als ausgesprochen sorglos, was sich beispielsweise an der immer noch vergleichsweise niedrigen Volatilität und der Bereitschaft, jedes Tief schnell wieder zu kaufen, ablesen lässt. Es lässt sich auch nur schwer vermitteln, dass extrem hohe KGVs, wie sie bei einigen US-Technologieaktien derzeit anzutreffen sind, eine angemessene Bewertung darstellen sollen.
Jeder Investor oder Trader sollte sich deshalb darüber im Klaren sein, dass sich die heute bestehenden Anomalien, etwa die niedrigen Zinsen für Unternehmensanleihen oder die hohe Bewertung von Technologieaktien in den USA nicht kontrolliert auflösen werden. Die Korrektur wird, wenn sie denn kommt, weitere Kreise ziehen, als die Masse der Anleger es erwartet.
Frühzeitig in Deckung zu gehen, könnte daher nicht die schlechteste Vorbereitung auf dieses prinzipiell nicht prognostizierbare und damit unvorhersehbare Ereignis sein.
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Ein Beitrag von Dr. Bernd Heim.