Börse: Wenn alle rauswollen – ist das genau der Moment zum Einstieg?

Veröffentlicht am 22.04.2025, 07:44

Letzte Woche sprachen wir über die „Zoll‑Atempause“, die die Aktienmärkte in den drittgrößten Tagesanstieg aller Zeiten katapultierte.

„Wie wir vergangene Woche erklärt haben, würde jede gute Nachricht eine heftige Gegenbewegung auslösen. Am Mittwoch kündigte Präsident Trump eine 90‑tägige Pause bei der vollen Wirksamkeit der neuen Zölle an. Bemerkenswert: Dieselbe Schlagzeile beflügelte die Kurse schon am Montag, wurde dann aber vom Weißen Haus als ‚Fake News‘ abgewatscht. Mein Verdacht: Am Montag wurde bewusst ein Testballon gestartet, um die Marktreaktion auszumessen, und Trump hielt die Meldung in der Schublade, um später einen weiteren Kursrutsch im letzten Moment zu verhindern. Wie dem auch sei – die Börse brauchte dringend diese Verschnaufpause.“

Kurz darauf folgte jedoch der Dämpfer: In einer Rede warnte Fed‑Chef Jerome Powell, die Zölle könnten „höhere Inflation und geringeres Wachstum“ auslösen. Kommt Ihnen das bekannt vor? 2021 hatte Powell ebenfalls beteuert, die Inflation werde nur vorübergehend sein – just in dem Moment, als die Geldmenge um 42 Prozent explodierte.

Damals lag er daneben, und auch diesmal fixiert er sich möglicherweise auf hypothetische Zollschocks, während er die deflationären Warnsignale – fallende Ölpreise, nachlassenden Konsum, sinkende Sparquoten und steigende Zahlungsausfälle – geflissentlich übersieht.

Nicht überraschend reagierte Präsident Trump auf Powells Aussagen umgehend; das erinnerte stark an das öffentlich ausgetragene Kräftemessen der beiden im Jahr 2018. Auf Truth Social schrieb Trump:

Trump auf Truth Social

Tatsächlich traf die jüngste Zinssenkung der Europäischen Zentralbank – die siebte in Folge – im EZB‑Rat einstimmig auf Zustimmung. Ungeachtet von Powells Begründung steigt der Stress im Finanzsystem: Die Kreditspreads weiten sich, Konsum und Sparleistung bröckeln – ein Cocktail, der selten ohne Nebenwirkungen bleibt.

Die Federal Reserve hat nach wie vor Panik davor, die Inflationswelle von 2021 noch einmal zu übersehen. Damals hatte sie den Effekt des zeitweisen Produktionsstopps und der Helikopter‑Schecks unterschätzt. Genau wie 2018 könnte sie nun zu spät realisieren, dass Zölle eher deflationär wirken und das Wachstum bremsen. Zur Erinnerung: Nachdem das „Repo‑Drama“ 2019 eskalierte, senkte die Fed die Zinsen Hals über Kopf. Gut möglich, dass die Geschichte sich reimt.

Technisches Update

Die Wall Street wartet auf die nächste Fed‑Sitzung, und die Doppel‑Unsicherheit aus Geld‑ und Zollpolitik lastet spürbar auf den Kursen. Nach der furiosen „Zoll‑Rettungsrally“ gaben die Indizes einen Teil der Gewinne wieder ab. Der MACD liefert zwar ein frisches Kaufsignal, die Geldflüsse sind positiv, doch Käufer agieren bislang mit angezogener Handbremse.

Die 20‑Tage‑Linie bleibt der Deckel auf dem Topf. Ein erneuter Test der jüngsten Tiefs ist nicht ausgeschlossen – Vorsicht bleibt Trumpf. Gelingt dagegen der Sprung über die 20‑Tage‑Linie, wäre der Weg bis zur 50‑Tage‑Linie frei.

S&P 500 Tageskurse

Ein Anstieg bis an die 100‑Tage‑Linie beißt sich zudem mit saisonalen Mustern: Das zweite Quartal ist statistisch traditionell volatil, doch die berühmte Sommerflaute („Sell in May and go away“) startet meist nicht vor Mitte Mai. Historisch verzeichnete der S&P 500 in Nachwahljahren wie dem aktuellen in rund 70 Prozent der Fälle eine positive Performance zwischen April und Oktober. Das ist kein Freifahrtschein, aber ein Hinweis darauf, dass Geduld ebenso wertvoll sein kann wie Eile.

Ist das Risiko damit vom Tisch? Natürlich nicht. Doch wie wir gleich sehen werden, könnten wir uns einem kurzfristigen Tief annähern.

Ist der Boden nahe?

Sie kennen sicher den Spruch: „Bären sind wie kaputte Uhren – sie haben zweimal am Tag recht.“ In einem Bullenmarkt klingt das plausibel, verrät aber vor allem Unkenntnis. Dreht man die Logik um, wird’s deutlich: Wenn Bären nur zweimal recht haben, liegen Bullen zwangsläufig zweimal falsch.

Das Kernproblem heißt „emotionales Lagerdenken“. Wer sich als Bulle oder Bär deklariert, blendet Risiken aus. Vor allem der Bestätigungsfehler führt dazu, dass man nur Argumente sucht, die in die eigene Weltsicht passen.

Als Anleger sollten wir alle Daten offen prüfen und das Portfoliorisiko ehrlich einschätzen. Zu wenige Aktien in einem Aufschwung können genauso weh tun wie zu viele in einem Abschwung. Ziel ist es nicht, permanent bullisch oder bärisch zu sein, sondern in der ersten Hälfte des Zyklus richtig zu liegen – und in der zweiten Hälfte nicht fatal daneben.

Howard Marks formulierte es treffend: „Kontra zu handeln ist hart, einsam und meistens richtig. Doch wer zu früh recht hat, liegt erst einmal falsch.“

Volatilität schürt Verlustaversion. Genau dort entstehen aber oft die besten Chancen.

Vola

Die klassischen Bären‑Argumente – hohe Bewertungen, Gewinnschwäche, Fed‑Fehler, Rezessionsgefahr – sind real. Wenn jedoch bereits alle dieselbe Katastrophe erwarten, was passiert, wenn es doch anders kommt? Bob Farrells Regel Nr. 9 mahnt: „Wenn alle Experten übereinstimmen, geschieht etwas anderes.“

Risk‑Off‑Positionierung auf Extrem

Derzeit herrscht Endzeitstimmung.  Ob institutionell oder privat – die Netto‑Bullish‑Quote liegt auf Niveaus, die wir zuletzt in der Finanzkrise sahen. Bemerkenswert, denn der jüngste Rückgang verlief vergleichsweise geordnet. Gleichwohl sind die Anleger so skeptisch wie 2008.

Historisch markierten derart negative Werte oft die Tiefpunkte des Marktes.

Net Bullish Sentiment vs S&P 500

Auch der Volatilitätsindex VIX, gemeinhin Fieberthermometer der Angst, sprang auf den höchsten Stand seit der Pandemie. Kombiniert man die Sentiment‑Indikatoren mit dem VIX, ergibt sich eine Gemengelage, die typischerweise eher zu Wendepunkten führt als zu Beginn echter Bärenmärkte.

Sentiment-VIX Composite vs S&P 500

Weitere Extreme

Andere Kennziffern bestätigen das Bild. Laut Bank‑of‑America‑Umfrage planen globale Fonds das größte US‑Aktien‑Underweight seit der Dotcom‑Krise. Ähnliche Ausverkaufs‑Stimmungen waren in der Vergangenheit exzellente Gegensignale.

Investoren, die ihr Engagement in US-Aktien reduzieren wollen

Gleiches gilt für den plötzlichen Kapitallauf in Auslandsmärkte. Überschriften über die „große Rotation“ erscheinen fast jährlich – und in schöner Regelmäßigkeit kehrten Investoren zu US‑Aktien zurück, sobald Konjunktur‑ und Gewinnprognosen hierzulande überzeugten. Kurz: Extreme Abneigung gegen den Heimatmarkt war oft der Moment, in dem sich das Kaufen lohnte.

Gewichtung von US-Aktien

Selbst wenn wir ausschließlich das US‑Exposure betrachten, liegen die gegenwärtigen Gewichtungen am unteren Rand der Skala, was historisch eher zu Bodenbildungen passt.

Aktienpositionierung

Wir beobachten dasselbe Phänomen bei professionellen Fonds, die Algorithmen einsetzen, um ihre Aktienquoten dynamisch zu steuern. Auch sie haben ihr Engagement auf Niveaus reduziert, die eher zu einem Markttief als zu einer fortgesetzten Korrektur passen

Aktienpositionierung

Zuletzt haben institutionelle Anlagevehikel, die sich strikt an Volatilitätskennzahlen orientieren, ihre Positionen ebenso drastisch heruntergefahren.

Vola Control

Wenn die Aktienquote insgesamt so niedrig ist, genügt jede kleine Portion „guter Nachrichten“ – sei es aus der Wirtschaft, der Politik oder der Berichtssaison –, um die Fondsmanager hektisch in den Markt zurückzutreiben. Diese Jagd nach Aufstockung könnte die Kurse kräftig nach oben katapultieren. Für private Anleger gilt indes: Sobald sie merken, dass die Korrektur vorbei ist, ist der größte Teil der Gelegenheit bereits futsch.

Risk‑Off-Indikatoren deuten ebenfalls auf ein mögliches Tief

Wenn die kollektive Risikoaversion ein Ausmaß erreicht, das typischerweise mit Bodenbildungsprozessen zusammenfällt, schlagen auch technische Indikatoren irgendwann nachdrücklich in Richtung „Risk‑On“ aus. Wie vergangene Woche erwähnt, lieferte Sentimentrader.com eine hervorragende Übersicht: Eine breite Palette von Indikatoren – von relativer Stärke über Marktbreite bis hin zu Momentum – notiert auf extrem niedrigen Ständen

Risk-Off Sentiment und Positionierung

Insgesamt verfolgt Sentimentrader 21 Messgrößen und verdichtet sie zu einem einzigen Barometer, das Extremwerte von Bullishness oder Bearishness erkennt. Derzeit befindet sich dieses Indikator‑Konglomerat tief im riskanten Negativbereich. Das garantiert keinen sofortigen Kursanstieg, signalisiert aber historisch, dass wir uns in der Nähe von Böden bewegen.

Risk-On/Off Indicator

Sentimentrader merkt dazu an:

„Fällt der Risk‑On/Risk‑Off‑Index unter 35, erleben wir meist turbulente Marktphasen mit deutlichen Kursrückgängen. Defensives Agieren kann Anlegern in solchen Perioden helfen, einen Teil des finanziellen und psychologischen Schmerzes zu vermeiden. Doch der Indikator ist inzwischen so weit ins Ungünstige gekippt, dass es fast schon ‚so schlecht ist, dass es gut sein könnte.‘“

Üblicherweise sind derartige Extremwerte ein Zeichen dafür, dass der vorherige Auf‑ oder Abwärtsschub weitgehend ausgestanden ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Märkte nicht noch tiefer in die Extreme stürzen können, ehe der endgültige Boden erreicht wird. Sentimentrader schlussfolgert:

„Die gute Nachricht lautet: Isoliert betrachtet spricht das Signal deutlich für Aktien. Die schlechte Nachricht: Kein Portfolio sollte sich auf nur einen Indikator stützen. Die Botschaft ist nicht ‚Alles klar, die Party beginnt‘, sondern: ‚Blenden Sie das bearishe Hintergrundrauschen aus, managen Sie Ihr Risiko und behalten Sie die Möglichkeit besserer Renditen im Auge – vor allem aber, managen Sie Ihr Risiko.‘“

Dem können wir uns nur anschließen. In Marktrückgängen handeln Anleger meist emotional, um weitere Verluste zu vermeiden. Das ist menschlich, aber – wie bereits früher diskutiert – eine der Hauptursachen für langfristige Underperformance.

Der Feind sind wir selbst

Die Lektion lautet: Schlagzeilen steuern die Stimmung, und wenn die Stimmung zu negativ wird, können Rallys aus dem Nichts entstehen. Bedeutet das, dass jetzt der nächste große Bullenmarkt startet? Wohl kaum. Aber es legt nahe, dass derart hohe Pessimismusgrade heutiges Verkaufen zur Fehlentscheidung machen könnten.

Die größten Stolpersteine sind der Herdentrieb und die Verlustaversion. Letztere zählt laut einer Umfrage des CFA Institute zu den wichtigsten Entscheidungsfaktoren.

Psychologische Faktoren beim Investieren

„Verlustaversion beschreibt die Tendenz, Verluste stärker zu gewichten als Gewinne. Je öfter man Verluste erleidet, desto anfälliger wird man.“ – Corporate Finance Institute

Kein Wunder, dass die menschliche Psyche einer der bedeutendsten Gründe für verfehlte Anlageziele ist. Unsere kognitiven Eigenheiten sabotieren konsequent unser Handeln.

Ein letztes Beispiel: Kurseinbrüche und steigende Volatilität lösen Panik aus. Interessanterweise sind niedrige Volatilitätsstände ein Warnsignal, hohe dagegen oft eine Kaufgelegenheit. Schließt der VIX über 45, herrscht extreme Angst – und historische Daten zeigen, dass dies langfristig starke Einstiegspunkte gewesen sind. Nach solchen Spitzen hat sich der S&P 500 im Durchschnitt binnen fünf Jahren mehr als verdoppelt, weit besser als in Zeiten geringer Schwankung. Wer in solchen Phasen opportunistisch umschichtet, stärkt die Widerstandsfähigkeit seines Portfolios.

S&P 500

George Dvorsky schrieb einmal:

„Das menschliche Gehirn schafft 10¹⁶ Rechenoperationen pro Sekunde und ist damit potenter als jeder heutige Computer. Trotzdem hat es gravierende Schwächen: Ein Taschenrechner rechnet um Größenordnungen präziser, unser Gedächtnis wankt – und wir leiden unter kognitiven Verzerrungen, jenen Störgeräuschen, die uns zu fragwürdigen Schlussfolgerungen verführen.“

Kurzum: Der gefährlichste Faktor für unseren Anlageerfolg – das sind wir selbst.

Aus konträrer Perspektive entstehen Exzesse, wenn sich alle auf derselben Seite drängen. Derzeit überwiegt der Pessimismus so stark, dass eine positive Überraschung die Märkte wohl stärker beflügeln würde, als es sich die meisten vorstellen können. Muss das so kommen? Nein. Aber wir sollten geistig flexibel bleiben.

Wie wir das spielen

Das Dilemma des Kontra‑Investors liegt in der Einschätzung des Zyklusstandes. Die Schwarmintelligenz liegt während der Aufwärtsphase meist richtig, an Wendepunkten jedoch spektakulär daneben. Daraus ergeben sich einige praktische Schritte:

  1. Langsam agieren. Es gibt keinen Preis für überstürztes Handeln. Wer in Panik reagiert, greift oft daneben.

  2. Übergewicht behutsam abbauen. Wer zu viele Aktien hält, sollte nicht alles auf einmal umschichten. Logisch überlegen, welches Zielgewicht sinnvoll ist, und Erholungen nutzen, um dorthin zu gelangen.

  3. Laggards verkaufen. Titel, die schon im Aufschwung schwach waren, führen im Abschwung doppelt ins Minus.

  4. Starke Segmente aufstocken. Wer Risikobudget braucht, erhöht Positionen, die den Markt schlagen.

  5. Stop‑Loss hochziehen. Ein Depot ohne Stopps ist wie Fahren mit verbundenen Augen.

  6. In Stärke herausverkaufen. Viele Positionen werden mit Verlust glattgestellt – das ist keine Niederlage, sondern Fehlerkorrektur.

  7. Professionelle Hilfe erwägen. Wenn all das unverständlich klingt, kann ein Vermögensverwalter langfristig günstiger sein als schlechte Entscheidungen.

Merke:

„In guten Zeiten bedeutet Skepsis, Dinge als zu gut zu erkennen; das kann jeder. In schlechten Zeiten heißt Skepsis, zu ahnen, wann Dinge zu schlecht wirken. Die Horrorszenarien anderer erschrecken auch Sie, aber wer Erfolg will, muss standhaft bleiben. Die Welt geht selten unter – wer investiert, wenn andere das Gegenteil befürchten, kauft oft Schnäppchen.“

Portfolio Allokation

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