Die Volatilität bleibt, aber der Angebotsschock lässt höhere Preise erwarten.
Die Achterbahnfahrt der Energiepreise geht weiter...
Nach einem sechstägigen Rekordanstieg der Ölpreise von 90 auf 130 Dollar pro Barrel erreichten die Preise in der vergangenen Woche wieder den Bereich Mitte der 90-Dollar-Marke und sorgten damit für eine Art Schockstarre unter den Energiehändlern. In den letzten Tagen haben sich jedoch sowohl die europäische Referenzsorte Brent als auch WTI wieder über die 100-Dollar-Marke bewegt.
Die Korrektur machte kurzzeitig die gesamte Risikoprämie wett, die infolge der russischen Invasion in der Ukraine geschaffen worden war, ehe sich die Preise stabilisierten und wieder über 100 Dollar stiegen:
Trotz des Preiseinbruchs hat sich an den wachsenden Versorgungsrisiken auf dem heutigen Ölmarkt wenig geändert. Vielmehr hat die Internationale Energieagentur (IEA) unlängst gewarnt, dass der Ölmarkt vor der "größten Versorgungskrise seit Jahrzehnten" steht.
In diesem Artikel gehe ich auf die jüngsten Angebots- und Nachfragetrends ein, die auf einen weiterhin angespannten Markt und höhere Preise hindeuten. Doch zunächst wollen wir den Schlüsselfaktor für die aktuell extremen Preisausschläge untersuchen - den Einbruch der Handelsaktivitäten bei Erdöl. Festmachen lässt sich dies am Rückgang des Open Interest sowohl bei Rohöl als auch bei den Futures-Kontrakten für raffinierte Produkte, die auf Mehrjahrestiefs gefallen sind:
Ursache für die sinkende Handelsaktivität ist, dass die Rohstoffbroker die Margenanforderungen erhöht haben, was die Trader, die normalerweise für einen Volatilitätspuffer sorgen, zum Rückzug zwingt. Jeder, der auf diesen Märkten handelt, hat wahrscheinlich den Mangel an Liquidität an den ausufernden Spreads bereits wahrgenommen. Während die Spanne zwischen Geld- und Briefkurs normalerweise bei ein oder zwei Penny liegt, beträgt sie derzeit routinemäßig 0,05 bis 0,10 Dollar oder mehr.
Es ist also damit zu rechnen, dass die täglichen Preisbewegungen - sowohl nach oben als auch nach unten - auch in Zukunft extrem sein werden. Wenn wir jedoch durch das Rauschen der täglichen Preisbewegungen hindurchsehen, bleiben die fundamentalen Aussichten für Öl so bullisch wie eh und je.
Lassen Sie mich mit dem wichtigsten Faktor von allen beginnen - der Situation der russischen Ölexporte.
Selbst ein Waffenstillstand würde das russische Angebot nicht zurückbringen
Der anfängliche Impuls für die jüngste Ölpreiskorrektur war die Meldung über diplomatische Fortschritte von russischer Seite, die auf einen möglichen baldigen Waffenstillstand in der Ukraine hindeuteten. Im Nachhinein wissen wir natürlich, dass diese Berichte viel zu positiv dargestellt wurden und der Konflikt in seinem zweiten Monat weiter tobt. Aus humanitärer Sicht - und um den Dritten Weltkrieg zu vermeiden - hoffen wir natürlich alle auf einen baldigen Waffenstillstand in der Ukraine.
Es wäre aber ein großer Fehler, wenn der Markt davon ausginge, dass jedes Gespräch über einen Waffenstillstand eine sofortige Aufhebung der Sanktionen und eine Rückkehr zur Normalität für russische Energie bedeutet. Angesichts des schieren Ausmaßes der Zerstörung und der menschlichen Tragödie, die Russland der Ukraine zugefügt hat, besteht zu diesem Zeitpunkt keine Aussicht mehr auf eine rasche Lösung des Konflikts. Ganze Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht, und über 10 Millionen ukrainische Flüchtlinge wurden aus ihren Häusern vertrieben. Außerdem häufen sich die Berichte, dass Russland gezielt Zivilisten in der Ukraine angreift.
In jedem Fall bedarf es langer und schwieriger Verhandlungen, um ein dauerhaftes Friedensabkommen zu erreichen, selbst wenn ein Waffenstillstand erreicht werden kann.
Auch die geopolitische Spaltung Russlands und des Westens lässt sich nicht mehr so einfach lösen. Erst vor einer Woche, am Mittwoch, bezeichneten US-Präsident Biden und Außenminister Blinken Putin wegen der wahllosen Tötung unschuldiger Zivilisten durch Russland als "Kriegsverbrecher".
Eine ähnliche Aussage machte auch der Vizepräsident der Europäischen Kommission Josep Borrell:
Dabei handelt es sich um schwerwiegende Anschuldigungen mit gravierenden Folgen.
Es könnte bedeuten, dass die westlichen Sanktionen gegen Russland auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten werden, selbst nach einem formellen Friedensabkommen in der Ukraine. Demnach stellt sich der Westen auf einen langjährigen kalten Konflikt mit Russland ein, wobei die Sanktionen auch nach einer Lösung in der Ukraine auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten werden könnten. Der ehemalige stellvertretendn US-Verteidigungsministers Bing West fängt in einem Gastbeitrag im Wall Street Journal den wachsenden Chor der Stimmen ein, die auf einen Regimewechsel in Russland drängen, was dazu führen würde, dass die Sanktionen so lange aufrechterhalten werden, wie Putin an der Macht bleibt.
Kurz gesagt, westliche Politiker setzen alles daran, Russland zum nächsten Iran oder Venezuela zu verurteilen. Vor diesem Hintergrund sorgt der Reputationsschaden bei Geschäften mit Russland dafür, dass sich westliche Länder zunehmend "selbst sanktionieren" und sich aus dem Land zurückziehen.
Im Energiesektor waren es zunächst die großen Ölkonzerne wie Exxon (NYSE:XOM), Shell (NYSE:SHEL) und BP (NYSE:BP), die ihre Geschäfte in Russland aufgaben. Diese Entscheidungen werden sich vor allem langfristig auf die Fähigkeit Russlands auswirken, seine Produktion zu steigern, wenn auch mit geringen kurzfristigen Auswirkungen.
Die Situation eskalierte aber letzten Freitag weiter, als der Ölfelddienstleistungsgigant Halliburton (NYSE:HAL) ankündigte, seine Geschäfte in Russland ebenfalls sofort einzustellen. Nur einen Tag später kündigten sowohl Schlumberger (NYSE:SLB) als auch Baker Hughes (NYSE:BKR) einen Stopp aller weiteren Investitionen in Russland an, was den Weg für einen vollständigen Rückzug beider Unternehmen aus dem Land ebnen könnte.
Das sind Schritte von enormer Tragweite. Wie viele ausländische Ölproduzenten ist Russland auf westliche Dienstleistungsunternehmen angewiesen, die ihm Technologie, Ersatzteile und Humankapital zur Verfügung stellen, um seine Öl- und Gas-Betriebe effizient zu betreiben. Russland kann diese Dienstleistungen und Ersatzteile nicht über Nacht ersetzen, was kurzfristig zu einer Beeinträchtigung der Produktion führen kann.
Zu guter Letzt gibt es noch die unmittelbarste Bedrohung für die russischen Exporte - die einfache Weigerung vieler Länder, russisches Rohöl und raffinierte Produkte zu kaufen, aufgrund der direkten und indirekten Auswirkungen der westlichen Sanktionen. Bislang waren die Störungen in diesem Bereich eher minimal, da die vor Wochen unterzeichneten Verträge weiterhin auf dem physischen Markt bearbeitet wurden. Wenn die Sanktionen jedoch im nächsten Monat ihre volle Wirkung entfalten, droht dem Markt eine erhebliche Störung der russischen Ölproduktion.
Tagesproduktion Russlands könnte um 3 bis 4 Millionen Barrel sinken
Die IEA hat letzte Woche ihre erste offizielle Schätzung zu den russischen Förderausfällen veröffentlicht...und das Ergebnis war erschütternd. Die Agentur geht von einem massiven Rückgang der russischen Produktion um 25 % ab April aus. Mit anderen Worten...
Dem bereits angeschlagenen globalen Ölmarkt könnten ab nächsten Monat 3 Millionen Barrel pro Tag verloren gehen.
Der IEA-Bericht warnte den Markt, sich auf die "größte Ölversorgungskrise seit Jahrzehnten" einzustellen. Der berühmte Rohstoffhändler Pierre Andurand spricht sogar von einem noch größeren Angebotseinbruch. Als er in der Odd-Lots-Show seine Argumente für einen Ölpreis von 200 Dollar darlegte, veranschlagte er den Ausfall der russischen Fördermenge auf etwa 4 Millionen Barrel täglich. Er wies außerdem erneut darauf hin, dass eine einfache Lösung in der Ukraine unwahrscheinlich bleibt:
"Ich glaube ja nicht, dass die Kämpfe plötzlich aufhören und das Öl zurückkommt. Das wird nicht der Fall sein. Das Öl wird für immer weg sein."
Sollte eine dieser Schätzungen in Bezug auf den Angebotsausfall auch nur annähernd zutreffen, könnte der heutige Bullenmarkt schnell in eine Energiekrise umschlagen. Denn die jüngsten Lagerdaten zeigen, dass der Ölmarkt im Moment nicht einmal eine Störung von 1 Million Barrel täglich verkraften kann, geschweige denn von drei bis vier Millionen Barrel täglich.
Globale Ölbestände auf bedrohlich niedrigem Niveau
In ihrem jüngsten Monatsbericht meldete die IEA einen monströsen Rückgang der internationalen Lagerbestände um 60 Millionen Barrel im Dezember. Erste Daten für Januar zeigen einen weiteren Abbau um 13,5 Millionen Barrel, womit die globalen Reserven auf den niedrigsten Stand seit mehreren Jahrzehnten abgesunken sind.
In den letzten Wochen sind die gesamten US-Ölvorräte zum ersten Mal seit 2011 unter 1 Milliarde Barrel gefallen und befinden sich derzeit auf dem niedrigsten Stand seit 2008:
Zur Erinnerung: Als die Ölvorräte das letzte Mal so niedrig waren, befand sich der Ölpreis auf dem Weg in Richtung 145 Dollar pro Barrel. Daran wird deutlich, wie angespannt der Markt bereits heute ist, ohne dass es zu größeren Störungen durch russische Exporte gekommen ist.
Morgen werden wir die neuesten Angebotstrends untersuchen, um die Aussichten für eine mögliche Schließung einer Angebotslücke von 3 bis 4 Millionen Barrel pro Tag zu ermitteln.
Dieser Artikel wurde ursprünglich auf der Website Ross Report veröffentlicht.